Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  615–616

Wolfgang Mueller, Michael Portmann (Hrsg.) Osteuropa vom Weltkrieg zur Wende. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien 2007. 423 S., Tab. = Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Historische Kommis­sion. Zentraleuropa-Studien, 10. ISBN: 978-3-7001-3791-7.

Dieser Band ist aus einer Veranstaltungsreihe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit dem Ziel, „junge Historiker aus Mittel- und Osteuropa zur Präsentation, Diskussion und Publikation ihrer aktuellen Forschungs­projekte und -ergebnisse zu versammeln“, hervorgegangen (S. 9). Es handelt sich daher um ein „Resultat gegenseitigen Kennenlernens junger Wissenschaftler und ohne nähere thematische Vorgaben“ (S. 10). Im Mittelpunkt steht die Tschechoslowakei mit sieben Beiträgen; weitere Texte beschäftigen sich mit Österreich, Ungarn und Jugoslawien, und ein Beitrag ist den Beziehungen zwischen ostdeutscher Stasi und polnischen Geheimdiensten gewidmet (Je­rzy Kochanowski, S. 341–348). Der behandelte Zeitraum reicht von 1940 bis zur Gegenwart, wobei der Zweite Weltkrieg nur indirekt angesprochen wird; vor allem im Beitrag von Holly Case über Juden in Kolozsvár (Cluj) unter der ungarischen Verwaltung 1940–1944 (S. 39–53). Das Buch ist in vier Teile gegliedert: „Holocaust, Vertreibung, Machtdurchsetzung“, „Kommunismus und ‚Volksdemokra­tie‘“, „Krisen und Auflösungserscheinungen“; und am Ende wird unter der Überschrift „Nachwirkungen“ auf den serbischen Nationalismus in den neunziger Jahren (Florian Bieber, S. 371–391) sowie auf Fragen der Restitution jüdischen Eigentums und der jüdischen Re­nais­sance in Ungarn, der Slowakei und der Tsche­chi­schen Republik (Catherine Horel, S. 393–411) eingegangen.

Obwohl die Autoren aus verschiedenen Staaten stammen, dokumentiert dieser Band die österreichische Wahrnehmung der Geschichte von „Osteuropa vom Weltkrieg zur Wende“. Beim genauen Hinsehen geht es nämlich um Österreich und seine Nachbarstaaten sowie um jene Themen, die in der österreichischen Öffentlichkeit am bekanntesten sind: Holocaust, ethnische Veränderungen in den umliegenden Staaten, sowjetische Einflussnahme und Propaganda im Kommunismus sowie die machtpolitischen Erschütterungen im Ostblock von 1956, 1968 und in der Ära Gorbačëv. Der größte Teil des Buches beschäftigt sich mit der unmittelbaren Nachkriegszeit und den fünfziger Jahren.

Zur Tschechoslowakei behandelt Adrian von Ar­burg die Besiedlung der Grenzgebiete (S. 71–98), Emilia Hrabovec die Beziehungen zum Heiligen Stuhl (S. 99–130) und Volker Zimmermann diejenigen zu SBZ/DDR (S. 219–238); Marína Zavacká beschäftigt sich mit der Propaganda des kommunistischen Regimes (S. 209–217), David Schriffl mit dem Prager Frühling 1968 und den österreichische-slowakischen Beziehungen (S. 299–311), und Beata Ble­hová schreibt über Gorbačëv und den Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei (S. 349–367). Michael Portmann stellt in einer informativen Übersicht die Verfolgung von Kriegsverbrechern und ihren Kollaborateuren in Jugoslawien vor (S. 55–70), Goran Miloradović behandelt die dortige Filmproduktion 1945–1955 (S. 173–194) und Mateja Režek die Nationalitätenpolitik 1948–1958 (S. 195–208). Zu Ungarn wird von Sándor Horváth das Pro­jekt der ersten „sozialistischen Stadt“ Stalin­stadt vorgestellt (S. 161–171) und László Bíró beschäftigt sich mit den sowjetisch-jugo­sla­wisch-ungarischen Beziehungen im Jahre 1956 (S. 241–256).

Am interessantesten sind die Österreich betreffenden Beiträge von Wolfgang Mueller, Man­fred Migrauer und Thomas Fischer. In allen dreien werden Kommunisten als eigenständig handelnde Subjekte betrachtet und damit wertvolle Einsichten zur Geschichte des Kom­mu­nismus anstelle der gängigen Schablonen vor­gelegt. Wenn wir uns diesen Zugang am Beispiel der Studie von Wolfgang Mueller über das Verhältnis zwischen der Kommunistischen Partei Österreichs und der UdSSR während der Besatzungszeit (S. 133–160) vornehmen, ergibt sich folgendes: Mueller weist nach, wie unbegründet das bis heute gängige Klischee ist, die kommunistischen Parteien seien nur Handlanger Moskaus gewesen. Er stellt spannungsreiche Kommunikationsformen zwischen den österreichischen Kommunisten und den sowjetischen Behörden dar, ihre unterschiedlichen Interessenlagen sowie die grundlegend voneinander abweichenden Wahrnehmungshorizonte der kleinen österreichischen Partei einerseits und der globalpolitisch interessierten Großmacht andererseits. „Der Kalte Krieg verhalf den kleinen Verbündeten der Supermächte zeitweise sogar zu beträchtlichem Einfluss auf ihre großen Brüder“, stellt Wolfgang Mueller fest (S. 134), und man kann sich nur wünschen, dass seine analytische Betrachtungsweise möglichst rasch Eingang in die Diskussionen über den Kommunismus auch in anderen osteuropäischen Staaten finden wird.

Eva Hahn, Augustfehn

Zitierweise: Eva Hahn über: Wolfgang Mueller, Michael Portmann (Hrsg.) Osteuropa vom Weltkrieg zur Wende. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien 2007. 423 S., Tab. = Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Historische Kommission. Zentraleuropa-Studien, 10. ISBN: 978-3-7001-3791-7, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 615–616: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hahn_Mueller_Osteuropa_vom_Weltkrieg.html (Datum des Seitenbesuchs)