Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Ilya V. Gerasimov: Modernism and Public Reform in Late Imperial Russia. Rural Professionals and Self-Organization, 1905–30. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2009. X, 325 S., Tab. ISBN: 978-0-230-22947-1.

Im Mittelpunkt der Studie steht die nach der Revolution von 1905 einsetzende landwirtschaftliche Modernisierung, die zu einem wesentlichen Teil von den Angehörigen ländlicher Professionen – wie Veterinärmedizinern, Managern landwirtschaftlicher Kooperativen, Instruktoren und insbesondere der seit 1905 schnell expandierenden Berufsgruppe der Agronomen – getragen wurde. Letztere zählte zu Beginn des Ersten Weltkriegs gut 4.400 Personen (S. 54, 69). Gerasimov vertritt die These, dass die Agronomen als Reaktion auf ihre oft gewaltvollen Erfahrungen aus der ersten Russischen Revolution im wesentlichen unpolitisch gewesen seien. Der Verfasser weist nach, dass die Agronomen innerhalb weniger Jahre nicht nur zu den nachhaltigsten und bedeutendsten Akteuren des landwirtschaftlichen Modernisierungsprozesses avancierten, der im übrigen von Staat, Gesellschaft und öffentlichen Institutionen wie den Zemstva gleichermaßen getragen wurde (S. 53), sondern auch zu den am besten bezahlten Angehörigen der landwirtschaftlichen Professionen (S. 90–95). Den Agronomen sei es durch Arbeits- und Lebensweise nachhaltig gelungen, die räumliche und kulturelle Distanz zwischen Intelligencija und Bauern, zwischen Stadt und Land zu überwinden und die landwirtschaftliche Produktivität zu steigern (S. 56–57).

Die Monographie ist in drei Teile gegliedert. Der erste, mit „Strukturen der Mobilisierung“ betitelte umfasst drei Kapitel. Sie behandeln die strukturellen Rahmenbedingungen, die mentalen Dispositionen bzw. kognitiven Landkarten der Protagonisten und die insbesondere aus Italien entlehnten Vorbilder des landwirtschaftlichen Mobilisierungsprozesses im Zarenreich.

Unter der Überschrift „Dynamik der Modernisierung“ ist der zweite Teil der Interaktion der wichtigsten kollektiven Akteure – Staat, Intelligencija, Bauern – gewidmet. Gerasimov betont, dass eine neue Beamtengeneration, die im wesentlichen den Modernisierungsimpetus der Gesellschaft geteilt habe, einen Modus vivendi mit diesen gesellschaftlichen Eliten gesucht habe.

„Muster der ‚Nationalisierung‘“ heißt der Titel des letzten Abschnitts. Er beschäftigt sich in vier Kapiteln mit den Aspekten der Nation als Vaterland, als Volk, in der Revolution und schließlich mit der Auflösung der imaginierten Gemeinschaft durch die Nationalisierung als Expropriation. Es geht zum einen um die Chancen und Grenzen einer Integration der Intelligencija und der in Kategorien einer lokalen Gesellschaft denkenden Bauernschaft in eine imperiale, zumindest aber russische nationale Gemeinschaft, zum anderen um das Phänomen des Patriotismus. Darüber hinaus wird die Frage erörtert, inwieweit die mobilisierte Solidargemeinschaft aufgrund von Sprache und ethnokulturellen Banden gestärkt wurde. Gerade am Beispiel der Ukraine mündeten die Anstrengungen der Agronomen letztlich in einer Ukrainisierung.

Der Monographie, die sich als eine Kollektivbiographie von etwa 1.200 am landwirtschaftlichen Modernisierungsprozess beteiligten Akteuren versteht, liegt eine breite Materialbasis zugrunde. Neben den persönlichen Fonds führender Agronomen wie Ekaterina Kuskova, Ekaterina Sacharova-Vavilova und Aleksandr Čajanov aus dem Russländischen Wirtschaftlichen Staatsarchiv (RGAĖ) und dem Staatsarchiv der Russländischen Föderation (GARF) wurden Akten der Geheimpolizei, der Pressehauptverwaltung und der 1908 aus der Taufe gehobenen Assoziation „Russkoe zerno“ (vgl. S. 83ff.) aus dem Russländischen Historischen Staatsarchiv (RGIA), darüber hinaus Akten zu den landwirtschaftlichen Kursen, den höheren Frauenkursen und zur Volkshochschule aus dem Zentralen Historischen Archiv St. Petersburgs (CGIA SPb.) sowie schließlich Akten u.a. des Kazan’er Kreis-Zemstvo und der lokalen Gendarmerieverwaltung aus dem Nationalarchiv der Republik Tatarstan (NA RT) ausgewertet. Darüber hinaus wurden nicht nur Materialien je dreier ukrainischer und US-amerikanischer Archive, sondern auch eine große Zahl zeitgenössisch erschienener landwirtschaftlicher und genossenschaftlicher Periodika herangezogen.

Wichtiges Element der landwirtschaftlichen Modernisierung war der Wandel der Öffentlichkeit, der sich im Ancien régime nach dem Oktobermanifest von 1905 vollzog. Neben dem Aspekt der Selbstorganisation, beispielsweise durch die Gründung zahlreichen Kooperativen, betont Gerasimov insbesondere die Gründung landwirtschaftlicher Periodika, deren Zahl sich zwischen 1907 und 1913 von 96 auf 186 vermehrte, um sich dann binnen Jahresfrist von 186 auf 352 nochmals nahezu zu verdoppeln. Zu bedauern ist allerdings, dass Gerasimov dieses bemerkenswerte Wachstum nicht erklärt (S. 13).

Methodisch versucht Gerasimov das Konzept der Generation fruchtbar zu machen (S. 39ff.). Mit Rekurs auf Karl Mannheim greift er das Deutungsmuster der Jugendgeneration auf und betrachtet die Absolventen des Moskauer Landwirtschaftlichen Instituts des Jahrgangs 1910 als Kern einer „sozialen Generation“ (S. 41). Im nächsten Atemzug erweitert er aber seine Definition und deutet „Generation“ im wesentlichen als eine synchrone Erlebnisgemeinschaft mit identischen Reaktionen. In gewisser Weise setzt Gerasimov die Existenz von Generationen als gegeben voraus. Auf eine Unterscheidung von Erlebnis- bzw. Erzählgeneration verzichtet er, und auch der Aspekt, dass Generationalität – anders als bei Mannheim – vor allem als Resultat eines historischen Aushandlungsprozesses gedeutet werden kann, findet keine Erwähnung. Während Gerasimov den Generationszusammenhang wenigstens erörtert, werden andere zentrale Begriffe wie beispielsweise „[new] social movement“ (S. 43, 62), „civil society“ (S. 21–22) nicht weiter definiert.

Angelpunkt der Argumentation Gerasimovs ist die „unpolitische Politik“ der obščestvennost’ (S. 17ff.). Nicht ganz unzutreffend beklagt Gerasimov, dass gerade die jüngere Forschung obščestvennost’ mit dem Assoziationswesen und formalen Institutionen der Zivilgesellschaft gleichgesetzt habe. Allerdings ist seine Argumentation nur bedingt nachzuvollziehen, weil er, erstens, wie bereits erwähnt, Zivilgesellschaft nicht definiert und, zweitens, schreibt: „The emerging civil society, or the obshchestvennost’ in the language of the epoch [...]“ (S. 98). Was zunächst wie ein Ausschlusskriterium klingt, findet dann im selben Atemzug doch Erwähnung. Während Gerasimov obščestvennost’ als progressive, gebildete Gesellschaft deutet (S. 18, 49, 51), ihr eine bestimmte soziale und politische Agenda attestiert und sie als universale imperiale Kategorie ohne regionale Unterschiede betrachtet (S. 23, 27), versucht er die unpolitische Politik vor allem mit der Politik der kleinen Taten bzw. Schritte (malye dela) zu erklären: „‚Small deeds‘ became the major synonym for an apolitical venue of social activism“ (S. 19). Schon der Zemstvo-Liberalismus hatte in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit seiner Bildungsarbeit sowie seiner agrotechnischen und wohltätigen Unterstützung für die bäuerliche Bevölkerung diesem Credo entsprochen und somit der Hilfe zur Selbsthilfe einen unpolitischen Anstrich verliehen. Aber war diese Praxis tatsächlich unpolitisch? Um dies zu klären, ist es notwendig, Begriff bzw. Verständnis von ‚politisch‘ zu definieren, was Gerasimov allerdings unterlässt. Im zeitgenössischen Verständnis galten die Angelegenheiten des lokalen Gemeinwesens, wie Kirsten Bönker (Kirsten Bönker Russland den Russen. Ultrarechte in der Lokalpolitik 1905–1917, in: Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800–1917. Hrsg. v. Walter Sperling. Frankfurt/M., New York 2008, S. 191–220, hier bes. S. 193–198.) unlängst nachgewiesen hat, als unpolitisch, weil sie auf wirtschaftliche Aspekte bzw. Maßnahmen der lokalen Daseinsvorsorge beschränkt blieben, während alle Angelegenheiten, die die Staatsordnung berührten, als „politisch“ galten. Dabei wird freilich außer Acht gelassen, dass im Sinne eines konstruktivistischen Begriffs des Politischen Politisierung nicht mit der Existenz politischer Parteien gleichzusetzen ist, sondern für alle Aushandlungsprozesse mit überindividuellem bzw. gesamtgesellschaftlichem Anspruch gilt. Die örtlichen Honoratioren gaben sich sozusagen ‚unpolitisch‘, um sich einen möglichst umfangreichen Aktionsraum erschließen zu können, den sie nach eigenem Gutdünken gestalten konnten. Dies würde aber ceteris paribus bedeutenden, dass die Agronomen nicht in dem Maße ‚unpolitisch‘ waren, wie es Gerasimov behauptet. Mehr noch: Gerade angesichts des kollektivbiographischen Ansatzes und der Auswertung der Akten der Geheimpolizei hätte Gerasimov doch Aussagen über den Grad der parteipolitischen Organisation der Agronomen treffen können müssen, auch wenn die Zuschreibungen der Gendarmerie nicht unbedingt zutreffend gewesen sein dürften. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass zumindest manche der Agronomen im Laufe des Untersuchungszeitraums sich parteipolitisch betätigten. Dass Gerasimov diesen Aspekt aber gänzlich ausklammert, ist mehr als nur eine bedauerliche konzeptionelle Lücke.

Trotz dieser Einwände betritt die vorliegende Monographie Neuland, indem sie Prozesse der landwirtschaftlichen Modernisierung, der Professionalisierung und der (zivil)gesellschaftlichen Selbstorganisation auf dem flachen Land untersucht. Gerasimov macht deutlich, dass die vielzitierte Polarität von Staat und Gesellschaft nicht allein in einem Modus vivendi aufgehoben wurde, sondern sogar in einer konzertierten Aktion mündete (S. 78, 87).

Über manche Charakterisierungen respektive Aussagen lässt sich streiten. Den Saratover Gouverneur Fürst A. A. Širinskij-Šichmatov bezeichnet Gerasimov beispielsweise als dynamischen Administrator und vielseitig interessierten Beamten, unterlässt es aber zu erwähnen, dass er Mitglied der politisch extrem reaktionären „Russischen Sammlung“ war (S. 72). Zu bedauern ist auch, dass die Monographie kein Quellen- und Literaturverzeichnis aufweist. Die Suche nach den vollständigen Literaturangaben erweist sich auch mit Hinblick auf die Länge der Fußnoten, auf die ein Drittel des Gesamtumfangs des Werkes entfällt, als mühselig. Ungeachtet aller Einwände, Bedenken und Kritik darf nicht verhehlt werden, dass die Ausführungen Gerasimovs überaus anregend sind, weil sie zum Nachdenken und zum Überdenken von Positionen anregen. Für eine insgesamt gelungene Darstellung ist dem Verfasser Respekt zu zollen.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Ilya V. Gerasimov Modernism and Public Reform in Late Imperial Russia. Rural Professionals and Self-Organization, 1905–30. Palgrave Macmillan Houndmills, Basingstoke, Hampshire 2009. X. ISBN: 978-0-230-22947-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Gerasimov_Modernism_and_Public_Reform.html (Datum des Seitenbesuchs)

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