Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 3, S. 449-451

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Ol’ga A. Gavrilova: Zemstvo i revoljucija: 1917 god v Petrogradskoj gubernii [Zemstvo und Revolution: Das Jahr 1917 im Gouvernement Petrograd]. S.-Peterburg: Izdat. SPbGU, 2009. 255 S., Abb., Tab. ISBN: 978-5-288-04885-2.

Diese Monographie ist ein Beispiel dafür, dass der erste Eindruck trügen kann. Wer nur die Einleitung liest, wird die Darstellung als wenig überzeugend zur Seite legen, ist sie doch jahrzehntelangen Traditionen verpflichtet und atmet ungeachtet einiger modischer Accessoires wie der Terminologie der Zivilgesellschaft noch den alten Geist. Die Petersburger Historikerin entwickelt keine Fragestellung, keine die Darstellung strukturierende These und nimmt als Gegenwartsbezug ein aus dem Jahr 1995 stammendes Föderationsgesetz zu den Prinzipien der lokalen Selbstverwaltung. In dieses Bild passt, dass sich Gavrilova an atavistischen Vorstellungen Aleksandr Solženicyns, der einem ständisch-korporativem Aufbau der lokalen Selbstverwaltung das Wort redete, abarbeitet, ohne aber dessen krude Gedanken zu interpretieren und zu kommentieren. Dies erinnert an die Sowjetzeit, als Lenin die inappellable Referenzkategorie war. Auch die Auseinandersetzung mit der Forschung, zu einem gut Teil Darstellungen und Positionen der Sowjetzeit, ist wenig substantiell und spart mit Kritik.

Die Darstellung basiert auf zwei Quellengattungen. Neben den einschlägigen Archiven in Moskau und St. Petersburg sind insbesondere Periodika herangezogen worden, die Fragen der Selbstverwaltung gewidmet sind oder sogar von deren lokalen Gremien publiziert wurden.

Die Monographie besteht aus zwei Teilen, deren erster sich mit dem Verhältnis von ländlicher Gesellschaft und Staat in den Jahren 19171918 beschäftigt. Dieser behandelt zuerst die nach der Februarrevolution beginnende Demokratisierung der Selbstverwaltung auf der Basis eines allgemeinen, geheimen, gleichen und direkten Wahlrechts. Dann wird die Bedeutung des sog. „dritten Elements“, also der in qualifizierten Funktionen beschäftigten Angestellten der Zemstva, unterstrichen. Es folgt ein Abschnitt, der den sog. „kleinen Zemstvo-Einheiten“ in den Amtsbezirken und damit viel unmittelbarer an der bäuerlichen Basis gewidmet ist. Schließlich werden die Bedeutung allgemeinpolitischer Fragen und die Folgen des Oktoberumsturzes, die Gründung eines Volkskommissariats für lokale Selbstverwaltung mit dem linken Sozialrevolutionär V. E. Trutovskij an der Spitze, behandelt. Der zweite Teil thematisiert einerseits zentrale Aufgabenbereiche der Zemstva und erörtert anderseits die wachsenden Probleme der Finanzierung. Als eine ihrer ersten Maßnahmen überantwortete die Provisorische Regierung bereits am 5. März 1917 den Zemstva neben der Steuereintreibung wichtige polizeiliche Funktionen.

Gavrilovas Gliederung wirkt beliebig. Es kommt mehrfach zu Überschneidungen, da beide Teile Reformen ebenso erörtern wie die „Auflösung“ bzw. das Verhältnis der Zemstva zu den Sowjets.

Wer so negativ eingestimmt mit der Lektüre fortfährt, wird indes alsbald eines besseren belehrt; denn die Autorin versteht es überzeugend, die heterogenen Resultate des politischen Wandel innerhalb des Gouvernements Petrograd aufzuzeigen. Während in einigen Kreisen die Demokratisierung der Zemstva durch Kooperation mit unterschiedlichsten Institutionen bzw. durch Kooptation einzelner ihrer Repräsentanten ohne viel Aufhebens gelang, verweigerte beispielsweise das revolutionäre Volkskomitee in Schlüsselburg, das sich vorwiegend aus Repräsentanten der Kreisstadt und aus Arbeitern der dortigen Pulverfabrik rekrutierte, nicht nur jede Kooperation mit den alten Zemstvo-Eliten, sondern es inhaftierte sogar die Zemstvo-Exekutive sowie die städtische Polizei. Dies rief die Provisorische Regierung auf den Plan, die rechtsstaatliche Prinzipien einforderte und eine Inhaftierung, die nicht auf Anordnung der Justizbehörden erfolgt war, nicht billigen konnte. Dieser formaljuristische Standpunkt empörte wiederum das revolutionäre Volkskomitee, das sich gegen jede Einmischung von außen verwahrte, klare Autonomiebestrebungen verfolgte und die Provisorische Regierung mit einer bemerkenswerten Bandbreite von Vorwürfen überhäufte, die von der Verletzung revolutionärer Gesetzlichkeit über die Proklamation zahlloser temporärer Verfügungen bis hin zu den Stigmatisierungen als „bourgeois“, „kapitalistisch“ und „reaktionär“ reichten. Anfang Mai 1917 griff der Petrograder Sowjet in diesen inzwischen lodernden Konflikt ein und beklagte vor allem die anhaltende ökonomische und soziale Krise sowie das Fehlen einer Machtvertikale. Zu bedauern ist, dass Gavrilova diese exemplarische Schilderung abbricht, ohne den Faden später wieder aufzunehmen (S. 26–29).

Gelungen sind Gavrilovas Ausführungen über die Wahlen zu den Zemstva in den Amtsbezirken, mit denen gleichsam das Fundament des ländlichen Instanzenzuges der Selbstverwaltung, das die zemcy seit Jahrzehnten eingefordert hatten, gelegt werden sollte. Ihren Wünschen trug die Provisorische Regierung am 21. Mai 1917 mit einem Gesetz Rechnung. Wegen der umfänglichen Vorarbeiten – Wählerverzeichnisse mussten erstellt, Wahlkomitees konstituiert, Wahlen organisiert und Wahlurnen bereitgestellt werden – wurden die Wahlen auf Ende August anberaumt. Die Resultate waren aufschlussreich. Auch sechs Monate nach der Februarrevolution war die dörfliche Bevölkerung – die jungen Männer waren im Krieg – mehrheitlich keineswegs politisiert. Politische Parteien waren nicht flächendeckend präsent und ihre Broschüren wurden angesichts mangelnder Lesefähigkeit nur partiell rezipiert. Das Interesse der Bevölkerung zu wählen hielt sich im Gouvernement mit einer Wahlbeteiligung von 37,4 % in Grenzen. Auch die Bereitschaft, ein unbezahltes Ehrenamt zu übernehmen, war gering. Ungeachtet diverser Vorbehalte der bäuerlichen Bevölkerung gegenüber Angehörigen der Intelligencija, die im Verdacht gemeinsamer Interessen mit der Zensusgesellschaft standen, erhielten die intelligenty zahlreiche Stimmen und bekleideten nicht selten den Posten des Versammlungsvorsitzenden im Amtsbezirk. Auffällig aber war, dass in der überwiegenden Mehrheit der Fälle Bauern das Amt des mit der praktischen Politik beauftragten Vorsitzenden der Exekutive ausübten. Gavrilova interpretiert dies mit ausgeprägten bäuerlichen Vorbehalten gegenüber „Fremden“ bzw. Nichtbauern (S. 41–42, 57). Ende September 1917 hatte erst ein kleiner Teil der neuen Körperschaften seine Arbeiten aufgenommen. Die Institutionen wurden zu spät ins Leben gerufen, um an der ländlichen Basis Wurzeln zu schlagen und somit eine uneinnehmbare Bastion gegen das rätedemokratische Modell bilden zu können.

Detailliert erörtert Gavrilova die zunehmend prekäre Finanzlage der Zemstva im Verlauf des Revolutionsjahres, was die lokalen Selbstverwaltungsorgane entweder vor große Schwierigkeiten stellte oder sie partiell sogar zur Handlungsunfähigkeit verurteilte. Das Zemstvo von Gdov musste im Mai 1917 dringende Zahlungen in Höhe von 150.000 R. leisten – dem standen aber lediglich Einnahmen von 7.500 R. gegenüber. Dies war insbesondere einer nachlassenden Steuermoral geschuldet: Das Zemstvo von Novoladoga beispielsweise erhielt in den ersten sechseinhalb Monaten lediglich 14,6 % der zu leistenden Abgaben. Die Gutsbesitzer weigerten sich, für ihre Ländereien, die sie im Zuge der bereits diskutierten Sozialisierung des Bodens zu verlieren drohten, Abgaben zu entrichten. Die Städte zahlten nicht, weil sie darauf hofften, den Status einer kreisfreien Stadt zu erhalten. Die Bauern zahlten aus unterschiedlichen Motiven nicht, im besten Fall, weil sie mit ihren Steuern vor der Wahl der volost’-Zemstva nicht die Belange anderer Amtsbezirke finanzieren wollten, im schlechtesten Fall, weil sie die Zemstva nicht als ihre Angelegenheiten betrachteten. Die Exekutivorgane der Zemstva kritisierten die fehlende Steuergerechtigkeit, weil beispielsweise der Kirchenbesitz eximiert war. Sie verfügten zwar über Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Steuerschuldnern bis hin zu Zwangsverkäufen, an der unzureichenden Einnahmenseite änderte sich bis zum Oktoberumsturz aber nichts (S. 123, 125–128).

Um die laufenden Ausgaben finanzieren zu können, wandten sich die Zemstva entweder an den Staat mit der Bitte um Kredite, oder sie zeichneten Anleihen oder widmeten Gelder um: Hierbei griffen sie vor allem auf die Mittel zurück, die für den Getreideaufkauf vorgesehen waren. Insofern zeichneten sich bereits im Herbst 1917 bevorstehende Versorgungsengpässe ab (S. 68–69, 130–131). Die Tatsache aber, dass die Provisorische Regierung die Zemstva mit Aufgaben betraute, die vorher nicht zu ihrem Aufgabenkanon gezählt hatten, beispielsweise die Steuereintreibung oder der Getreideaufkauf zu Festpreisen, trug erheblich dazu bei, sie der Bauernschaft zu entfremden.

Mehrere Abbildungen, ein Quellenverzeichnis, ein Namensregister sowie Anhänge über die Löhne der Gouvernements- und Kreiszemstvoangestellten Petrograds im Frühjahr bzw. Sommer 1917, das Protokoll einer Sitzung von Ende September über die Organisation der Miliz im Petrograder Gouvernement sowie ein nicht datiertes Dokument über die Grundzüge der Sowjetmacht aus dem Jahr 1918 runden die vorliegende Monographie ab. Zu ihren Vorzügen zählen nicht Thesen oder Begriffsbildung, sondern vielmehr eine quellenahe und teilweise auch fesselnde Darstellung, die verdeutlicht, warum der auf Eigenverantwortung und Selbstorganisation zielende zivilgesellschaftliche Entwurf auf dem flachen Land zum Scheitern verurteilt war.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Ol’ga A. Gavrilova: Zemstvo i revoljucija: 1917 god v Petrogradskoj gubernii [Zemstvo und Revolution: Das Jahr 1917 im Gouvernement Petrograd]. S.-Peterburg: Izdat. SPbGU, 2009. 255 S., Abb., Tab. ISBN: 978-5-288-04885-2, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Haefner_Gavrilova_Zemstvo_i_revoljucija.html (Datum des Seitenbesuchs)

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