Michael C. Steinlauf Bondage to the Dead. Poland and the Memory of the Holocaust. Syracuse University Press Syracuse, NY 1997. XVI, 189 S., 30 Abb. = Modern Jewish History [poln. Aus­gabe: Pamięć nieprzyswojona. Polska pa­mięć zagłady. Übers. von Agata To­ma­szew­ska. Wydawn. Cyklady Warszawa 2001. 167 S.].

Jonathan Huener Auschwitz, Poland, and the Politics of Commemoration, 1945–1979. Ohio University Press Athens, OH 2003. XXI, 326 S. = Ohio University Press, Polish and Polish-American Studies Series.

Jan Tomasz Gross Fear. Anti-Semitism in Po­land after Auschwitz. An Essay in Historical Inter­pretation. Random House New York, NY 2006. XVI, 304 S.

Drei Bücher aus der amerikanischen Perspektive befassen sich mit polnisch-jüdischen Nachkriegsthemen. Sehr verschieden sind aber die Zugänge zu diesem Thema.

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Jonathan Hueners sehr sorgfältige Arbeit ist scheinbar die engste: Sie befasst sich „nur“ mit Auschwitz und dem Umgang mit diesem Lagerkomplex nach 1945. Die deutsche Einrichtung auf dem als „Ostoberschlesien“ in das Reich eingegliederten Gebiet hat im Zweiten Weltkrieg mehrere Stadien konsekutiv und gleichzeitig durchlaufen: Hier gab es ein „normales“ KZ für Polen und für „Politische“, aber auch ein Judenlager, durch das sowohl „Vernichtung durch Arbeit“ praktiziert wurde, als auch die industrialisierte Massenvernichtung durch Gas ihren quantitativen Höhepunkt erfuhr. Wichtig ist, dass der Verfasser gleich am Anfang darauf hinweist, dass Auschwitz ab Juni 1940 das „tödlichste“ Lager für Angehörige des polnischen Untergrunds und der intellektuellen Eliten war (S. 4); aber eben auch darauf, dass Juden und Zigeuner – anders als Polen und „Politische“ – nicht wegen irgendeiner persönlichen Aktivität, sondern nur wegen ihrer bloßen Existenz eingeliefert (S. 13) und in der Regel ermordet wurden.

Die wechselnde Betonung der einzelnen Funktionen, die Rivalität um die Opferrolle und deren Einbettung in die Geschichte des volksdemokratischen polnischen Staates bis zum Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ist Hueners Thema. Dabei wurde das Konzept der „Martyrologie“ – das nach 1989 verstärkt in die politische Debatte eindringen sollte – bereits in den ersten Nachkriegsjahren formuliert. Und man kann den Verantwortlichen kaum vorwerfen, dass sie mit dem im Januar 1945 von der Roten Armee befreiten Erbe zunächst wenig anzufangen wussten. Wie sollte man etwas konservieren, museal präsentieren, wofür es kein Vorbild gab? Huener gelingt es, die jeweiligen Maximen der Verantwortlichen vorzustellen, oh­ne sie zu denunzieren, ohne auch zu richten, was „gutes“ und was „schlechtes“ Gedenken sei. Und damit gelingt ihm schon sehr viel.

In den Jahren 1945–1947 wurde Auschwitz zum Angelpunkt des polnischen Leidens im Zweiten Weltkrieg, und die ambivalente, jedoch keineswegs antijüdische Politik des damaligen Staates, die eine Betonung des gemeinsamen durch die Deutschen bewirkten Leides bezweckte, um daraus eine Verteidigung des neuen, wenig geliebten Nachkriegsstaates ableiten zu können, leistete mit dieser Essentialisierung die Vorgabe für alle späteren Debatten. Fixpunkte des Gedenkens entstanden – wie die erst in jüngster Zeit in Frage gestellte Parallelität von 3 Millionen polnisch-jüdischer und 3 Millionen nicht-jüdischer NS-Opfer in Polen oder die bis heute wirkende Aussage Józef Cyrankiewiczs, der Genozid an den Juden sei das Vorspiel für den geplanten Genozid an den Polen gewesen.

Cyrankiewicz, dem PPS-Führer und späteren Ministerpräsidenten, war es als Ausch­witz-Häftling und Vorsitzendem des Verbands ehemaliger politischer Gefangener auch zu verdanken, dass Auschwitz I, das noch eine Zeitlang als Lager für deutsche Kriegsgefangene gedient hatte, unter Bewachung gestellt und damit vor der Ausplünderung durch die Bewohner der Umgebung bewahrt wurde. 1947 wurde hier ein Museum eröffnet, und in Abstimmung mit der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission wurde beschlossen, dass der Judenvernichtung ein besonderes Augenmerk gewidmet werden sollte, die jüdischen Opfer jedoch als Bürger ihrer jeweiligen Staaten zu würdigen seien. Bir­ken­au dagegen – als Auschwitz II die wichtigere Stätte der Judenvernichtung – verfiel.

Bald nach seiner Eröffnung und bis zum Ende der Stalinzeit wurde das Auschwitz-Museum – wenig überraschend – im Sinne des Kalten Krieges instrumentalisiert. Die Geschichte wurde in den Dienst der Gegenwart gestellt, und Auschwitz zeigte, wie weit man damit gehen konnte. Aber es gab auch einen öffentlichen Diskurs. Zu ihm gehörten Jerzy Putraments Aufruf gegen die Kommerzialisierung der Stätte und die zwischen 1948 und 1954 artikulierten Vorschläge, „Auschwitz unterzupflügen“ und das Gelände einem produktiven Zweck zuzuführen. Sie riefen öffentlichen Protest hervor, wurden nicht weiterverfolgt, und es galt fortan als legitim, der Mordstätte eine Erinnerungsbedeutung zuzuschreiben. Aber dabei wurde Ausch­witz von einer Leidensstätte zu einer Stätte des Kampfes umgemünzt, wodurch der jüdische Kontext in den Hintergrund rückte, ohne aber etwa geleugnet zu werden – und die Identifizierung der NATO und Westdeutschlands mit den NS-Gräueln war das sichtbarste ahistorische Element, das sich aus der herrschenden Ideologie ableiten ließ.

1954 wurde das Museum mit einer neuen Leitung und einem erhöhten Etat versehen. Im Stammlager entstand eine durch Huener genau beschriebene Ausstellung, während Birkenau, das Vernichtungslager, ein Ruinenfeld ohne weitergehende Betreuung blieb. Eingebettet in Hueners Darstellung ist nun die Geschichte des Internationalen Ausch­witz-Komitees, dem in einem Akt der Entstalinisierung die Gestaltung des Lager überantwortet wurde. Dieses Komitee hatte bald seine eigenen Probleme – es setzte seinen österreichischen Vorsitzenden Hermann Langbein wegen dessen Kritik an der DDR ab, folgte brav der polnischen Politik und politisierte das Gedenken erneut. Zwar gab es nun eine separate Sektion, die den Judenmord thematisierte, aber 1967/68 geriet man in den Strudel der „antizionistischen“ Kampagne. Schließlich war eines ihrer Themen, dass die polnische Enzyklopädie (völlig zutreffend) den Unterschied zwischen Arbeitslagern und Vernichtungslagern beschrieb, was den Verfassern den Vorwurf eintrug, die Judenvernichtung vom Leid der Polen abzukoppeln. Czesław Pilichowski, der Leiter der Hauptkommission zu Untersuchung von NS-Verbrechen (und vor dem Krieg ein Mit­glied des rechtsradikalen ONR [vgl. Steinlauf, S. 83]), prallte hier auf Andrzej Szczypiorski, der die durchgesetzte Gleichsetzung als „Geschichtsfälschung“ brandmarkte.

Aus dem bis dato eher für Polen bedeutenden Gedächtnisort wurde jetzt ein internationaler. Die Ausstellung mit separaten nationalen Einzelschauen für die verschiedenen Heimatstaaten der Opfer wurde in den siebziger Jahren zu einem Touristenziel, das Besucher aus aller Welt, vor allem aus Amerika und Deutschland, anzog. Daneben wurde nun endlich auch Birkenau als musealer Bestandteil aufbereitet, und man überarbeitete die Exponate zur Judenvernichtung. Gleichzeitig aber wurde auch die „katholische Komponente“ mit der Seligsprechung von Maksymilian Kolbe 1972 und dem Papstbesuch 1979 verstärkt. Johannes Paul II. würdigte zwar das Schicksal der Juden, aber eine neue Polarisierung richtete sich an der von ihm bestätigten christlichen Symbolik auf, was Huener nur mehr streift. Er betont dafür die Transformation von Auschwitz zu einem Ort des Protests gegen die etablierte Regierungsmeinung und der „Privatisierung“ – keines der Gedenkkonzepte, die in den Jahrzehnten davor verfasst worden waren, konnte mehr Allgemeingültigkeit beanspruchen.

Mit einem Ausblick auf die achtziger Jahre endet Hueners Studie, mit der er exzellent die multiple Gedächtnisfunktion von Auschwitz herleitet. Sie ist die Vorgeschichte des Kon­flikts, der um das Kloster, die Kreuze, die Inschriften und die Kommerzialisierung von Auschwitz bis heute mal mehr, mal weniger stark ausgetragen wird. Seine Historisierung, die noch um einen Exkurs über das unterschiedliche Gedenken von Christen, Atheisten und Juden erweitert werden könnte, ist ungeheuer wichtig, um zu verstehen, wie und warum die intoleranten gegenseitigen Totalisierungsansprüche des Gedenkens entstanden sind.

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Während Huener an einem Beispiel die polnisch-jüdische Opferrivalität aufzeigt, hat Steinlauf in einem auch sprachlich und argumentativ brillianten und wohldokumentierten Rundumschlag die ganze polnisch-jüdische Nachkriegsgeschichte in ihrer Vielschichtigkeit auf relativ knappem Raum erfasst. Steinlaufs distanzierte Sicht, die ihn zum Verfasser dieses wissenschaftlich sehr gut abgesicherten Abrisses der polnisch-jüdischen Problematik qualifiziert, drückt sich in dem Einleitungssatz aus, den nur wenige Verfasser so zustande brächten: „The truth may lie ‚in between’, but it may with equal likelihood lie with one or another of the ‚sides’, or somewhere else entirely.“ (S. XI).

Nach einem Rückblick auf die ferne polnisch-jüdische Vergangenheit kommt Steinlauf zu der wichtigen Feststellung, dass im Polen der Kriegszeit antijüdische Einstellungen in der Tradition der polnischen Nationaldemokratie nicht (wie im Westen Europas) halbautomatisch pro-deutsche implizierten und daher mit polnischem Patriotismus vereinbar blieben. Steinlauf sucht – wie später Gross – in einer psychologischen Figur den Grund für das Andauern von Judenfeindschaft nach Kriegsende. Ja, man hatte den Judenmord der Deutschen wahrgenommen, aber hatte man ihn auch „truly or fully witnessed“? (S. 53) Wie Krystyna Kersten und Czes­ław Miłosz sieht Steinlauf die getrennte Wahrnehmung des Krieges andauern. Was mit den Juden geschah, habe die Nicht-Juden angesichts des eigenen Schicksals kaum berührt – und umgekehrt sei es ebenso gewesen. Abstumpfung gegenüber dem Leid anderer, und nach dem Krieg den Wunsch, die Juden mögen einfach ver­schwinden, setzt Steinlauf nicht mit Antisemitismus gleich, sondern mit der alten erlernten Abneigung, die nicht unbedingt militant sein musste, sich aber durch die Kriegszeit und die Abstumpfung kaum verändert habe (S. 59). Und weil Nicht-Juden durch den NS-Genozid auch noch materiell profitiert hätten, fühlten sie sich schuldig, und als einige wenige Juden zurückkehrten und Zeugen der Bereicherung waren, noch schuldiger, was einen tödlichen Zirkel von Gewalt und Schuld ausgelöst habe.

Der „totalitäre“ Staat und seine Partei hätten dann mit der gesamten öffentlichen Meinung auch die Gewalt gegen die Juden unterdrückt, dabei aber auch versucht, sich den psychischen Bedürfnissen ihrer Bürger dadurch anzupassen, dass sie allzu visible Juden aus ihrer ersten Reihe verdrängten (wie übrigens auch die KPD in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts). Zu­dem benutzte man das negative Etikett „Jude“ auch in parteiinternen Intrigen, womit man den Massenantisemitismus salonfähig machte.

Besonders beeindruckend ist Steinlaufs Narrativ zu den Ereignissen des Jahres 1967: So berichtet er von einem Aspekt des Denkmalprojekts in Auschwitz, von dem man bei Huener nichts liest: Es sei geplant gewesen, eine abstrakte Familiengruppe aufzustellen – man habe davon jedoch Abstand genommen, als man erkannte, dass nur Juden und Zigeuner als „Familien“ in Auschwitz umkamen, während nicht-jüdische Polen in der Regel einzeln eingeliefert worden seien (S. 70). 1968 habe dann ein Machtkampf stattgefunden: Der Verfasser interpretiert die Auseinandersetzung jener Jahre als Generationenringen. Eine junge Generation – unbelastet vom Krieg – sei mit derjenigen zusammengestoßen, die die Judenvernichtung bewusst und im Lande miterlebt hatte. Letztere habe sowohl polnisch-patriotische als auch antizionistisch-antisemitische Motive in den Diskurs eingebracht, um ihre Machtposition zu verteidigen. Steinlauf zeigt dabei, dass die gegen die einheimischen Juden gerichtete antizionistische Argumentation in Polen früher als in der UdSSR aufgetaucht und deshalb keine Übernahme sowjetischer Elemente, sondern ein genuin polnisches Produkt gewesen sei.

Niemand habe 1968 wirklich gesiegt, weil auch die „Patrioten“ nicht an die volle Macht gekommen seien. Dennoch habe sich im offiziellen Diskurs eine Art von magischer neuer Weltsicht verbreitet, wie sie der polnischen Geis­tesgeschichte nicht ganz fremd ist – eine Weltverschwörung von Westdeutschen und Zio­nisten gegen Polen und schließlich eine wahnwitzige Interpretation des ganzen Holocaust als ein deutsch-zionistisches Komplott gegen die Polen. Der Kampf zwischen den Generationen sei auch ein Kampf zwischen Pluralismus und Chauvinismus gewesen, wobei der äußerliche Marxismus den Vorkriegschauvinismus der „Alten“ nur schwach verdeckt habe.

Mit seiner Generationenthese begründet Stein­lauf auch, dass die neue Elite, die nur langsam das politische Alphabet gelernt habe, auch dieselbe Zeit brauchte, um sich von den Maximen der polnischen Überlieferung zu lösen. Jüdisch-Sein wurde schick, als sich diese jungen In­tellektuellen der späteren „Solidarność“ (in der aber durchaus antisemitische Elemente überlebten – was man bei Steinlauf nicht liest) aufmachten, auch andere Teile der verfemten polnischen Vergangenheit aufzubereiten. Eine „fashion for Jews“ (S. 103) wurde Teil des öffentli­chen Diskurses, und selbst die Staatsführung unter Jaruzelski habe (auf amerikanische Kredite schielend) mit Philosemitismus geflirtet.

Mit dieser Umwertung der Vergangenheit sieht Steinlauf optimistisch in die Zukunft. Mit der „Europäisierung“ Polens seien auch die verbreiteten antijüdischen Sprüche zurückgegangen, die Wissenschaft beschäftige sich ernsthaft mit dem Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden, und überhaupt sei alles auf dem Wege zum Besseren, zur Normalisierung. Mit dem Schluss, dass „Poland now fully belongs in our world“ und „grand myths gave way to ‚points of view‘“ (S. 144) ist Steinlauf vielleicht etwas zu optimistisch – aber man sollte Historiker auch nicht als Prognostiker missbrauchen. Jedenfalls bietet das sehr lesbare und überaus lesenswerte Buch dieses glänzenden Historikers, der von sich schreibt „I pride myself on being perceived as ‚pro-Jewish’ among Poles and ‚pro-Polish’ among Jews“ (S. XI), einen ruhigen und ausgewogenen Überblick über die stürmischen und schwierigen letzten 60 polnisch-jüdischen Jahre.

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Das kann man wahrlich so nicht behaupten von dem letzten Produkt des Soziologen Jan Tomasz Gross, der mit seinem Jedwabne-Buch eine wichtige Debatte zur Rolle der einheimischen Bevölkerung in den deutsch besetzten Ge­bieten im Zweiten Weltkrieg angestoßen, aber mit seinen Übertreibungen und apodiktischen Thesen auch seinem eigenen Anliegen geschadet hat, widmet sich in seinem neuen Werk dem Antisemitismus in Polen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Anders als die beiden oben besprochenen Bücher geht es nicht um die Gesamtsicht des polnisch-jüdischen Komplexes, son­dern nur um dessen antisemitische Kompo­nente, was ja durchaus legitim wäre. Nicht legitim dagegen ist, dass der Historiker nahezu das gesamte polnisch-jüdische Verhältnis unter die­sem Begriff subsummiert und abweichende Ten­denzen bestenfalls am Rande erwähnt.

Nach einem Überblick über die Rahmenbedingungen des polnischen Nachkriegsstaates schil­dert Gross die Schwierigkeiten, die Juden im neuen Polen hatten. Dass es in den ersten Jahren nach 1945 in Polen antijüdische Gewalt gab, dass Juden von Marodeuren aus Zügen geholt und verprügelt, manchmal auch umgebracht wurden, ist nichts Neues. Die Tatsache, dass Polen, die Juden vor den Deutschen gerettet hatten, nach dem Krieg fürchten mussten, dafür von ihren Nachbarn gehasst und selbst verfolgt zu werden, hat auch Steinlauf als eines der scheinbaren Rätsel der polnisch-jüdischen Geschichte angesprochen. Dass der Hinweis auf den nationalistischen und oft auch antisemitischen Untergrund, der Polen noch etwa zwei Jahre in einem Bürgerkriegszustand hielt, nicht alles erkläre, ist ebenso richtig. Gross schildert denn auch ein Nachkriegspolen, in dem neben dieser Gewalt administrative Behinderungen von Juden an der Tagesordnung gewesen seien, von der Gleichgültigkeit der Behörden bis zu ausgewachsenen Diskriminierungen bei der Suche nach Arbeit und zu schwerwiegenden Vorkommnissen in den Schulen des Landes. Dass er hier schon den Unwillen hervorhebt, den Rückkehrern ihren Besitz zurückzugeben, weist auf seine erst später formulierte Hauptthese hin: So­wohl inzwischen eingezogene Privatpersonen als auch der Staat hätten sich in den zurückgelassenen Häusern eingerichtet und an dem verlas­senen Besitz bereichert. So weit ist der Befund richtig, problematisch wird er jedoch mit seiner einseitigen Interpretation.

Schließlich war im brutalisierten Nachkriegs­polen Gewalt auch im gentilen Bereich an der Tagesordnung. Die Eisenbahn- und Schulvorfälle sind unumstritten, aber wenn es um Raubüberfälle und die etwa 1000–1500 Morde an Juden geht, legen die meisten seriösen Historiker großen Wert auf die Problematisierung, dass man nicht bestimmen könne, wie viele Juden ein übles Schicksal erlitten, weil und wie vie­le un­ab­hängig davon, dass sie Juden waren.

Mit wenigen Sätzen wird angesprochen, dass Juden bis 1948/49 eine Nicht-Juden verweigerte politische Organisationsfreiheit genossen. Nur am Rande thematisiert Gross die Einrichtung der jüdischen Komitees, die (unter Durchbrechung der Maxime, dass man keine Minderheitenorganisationen dulden und einen national homogenen Staat schaffen wollte) als Unterstrukturen des Zentralkomitees der Juden in Polen im staatlichen Auftrag die Wiedereingliederung der aus den Lagern und der Sowjetunion zurückkehrenden Juden fördern sollten und eine von den gentilen Polen durchaus beneidete Infra­struktur errichteten (obwohl der Mittelteil des Bandes eher zusammenhanglos Bilder aus diesen Einrichtungen enthält). Dass deren Beschwerden gefürchtet waren und sie (nicht zuletzt in dem geschilderten Fall in Stettin, wo die Straßenbahnen zunächst keine Juden einstellten) auch Erfolg hatten, hat der Verfasser nicht weiter verfolgt. Dass in dem anderen dargestellten Fall die Stadt Chrzanów Wäscherinnen für die Rote Armee anforderte und ein Vertreter des Komitees dies mit der Anforderung von Zwangs­arbeitern durch die Deutschen beim Judenrat verglich, hätte Kritik an dieser Interpretation auslösen müssen, weil die „Produktivierungsabteilungen“ der Komitees (deren Bezeichnung man aus anderen Gründen kritisieren könnte) eigentlich genau deshalb geschaffen wor­den waren, um Juden Arbeit zu verschaffen (S. 65). Nur in der Anmerkung auf S. 66 schreibt Gross, dass Arbeitssuchende eben dafür „registered with the committee“ waren.

Den zentralen Teil des Buches nimmt eine sorgfältige Analyse des Pogroms von Kielce am 4. Juli 1946 ein. Sowohl die Ereignisse selbst als auch die Reaktion vor Ort wie seitens des Staats, der Intellektuellen und des katholischen Klerus sind in ihrer Vielschichtigkeit und mit den Versuchen, die Morde für eigene politische Zwecke zu instrumentalisieren, in den letzten 15 Jahren in Polen durchaus nicht vernachlässigt worden. Dies für die des Polnischen nicht mächtige Leserschaft zusammenzustellen und dabei mit einer Reihe von Legenden aufzuräumen, ist ebenso verdienstvoll, wie die unseres Wissens erstmalige Aufarbeitung von antijüdischen Ausschreitungen in Rzeszów am 12. Juni 1945, die eher zufällig keine Todesopfer forderten und die menschenverachtende Aversion der lokalen Behörden demonstrierten.

Gross betont hier – durchaus zu Recht – dass nicht so sehr politische Konspiration eine Rolle spielte als vielmehr eine fortdauernde antijüdische Einstellung der einfachen Bevölkerung – letztlich derselben „Nachbarn“, über die Gross auch im Fall von Jedwabne geschrieben hatte.

Aber an diesem Punkt wird Gross’ Buch auch problematisch: Zunächst stellt er fest, dass sich die nicht-intellektuelle Elite für die geschilderten Vorgänge wenig interessiert habe, weil sie – die letzte Generation, die noch im alten sozialen Bild der Vorkriegszeit erzogen worden sei – überhaupt nur wenig von den niederen Schichten, zu denen die Pogromtäter wie die Juden in ihrer Perspektive gehörten, zur Kenntnis nahm. Soziale Distanz habe daher ein Eingreifen verhindert. Die neuen Organe hätten sich wie­der­um aus anderen Gründen judenfeindlich verhalten – so seien etwa die Sicherheitsbehörden aus der Unterschicht rekrutiert worden und daher mit dem Antisemitismus ausgestattet gewesen, der die Unterschicht geprägt habe. Nicht das verbreitete Motiv der żydokomuna habe dabei gewirkt – es habe nur dazu gedient, die eigentlichen Motive der Täter zu kaschieren.

Die lagen für Gross in der „actual experience during war years“. Damit meint er (soweit un­strit­tig) nicht etwa die Übernahme des deutschen Antisemitismus, sondern eine in der kollektiven Mentalität verankerte „social action“, die im Krieg erworbenen materiellen Güter zu verteidigen (S. 246). Auf den ersten Blick ist dies eine ähnliche Sichtweise wie diejenige Stein­laufs, die ja auch von Abstumpfung und ma­teriellen Interessen handelte. Aber bei Steinlauf wird daraus ein diskussionswürdiges und von anderen Faktoren begleitetes Schuldempfin­den der Nicht-Juden, bei Gross hingegen geht es nur um vorder­gründig materielle Dinge, deretwegen man die Rückkehr der ermordet geglaubten fürchtete und sie „ein für allemal“ loswerden wollte. Und wie schon bei Jedwabne wird Gross hier monokausal und absolut: Er sehe keine andere plausible Erklärung (Steinlaufs Buch fehlt auch in seiner Literaturliste), und daher sei seine Annahme einer „collusion“ (Zusammenwirken eigentlich feindlicher Entitäten gegenüber Dritten in Schädigungsabsicht) zwischen Polen und NS-Deutschen, einer „opportunistic complicity“, die letztlich bei den Polen zum „Zusammen­bruch der europäischen Zivilisation“ geführt habe, solange gültig, „until someone offers an al­ternative explanation“ (S. 247).

Gross ist klug genug, mit jeweils wenigen Sätzen auf die jüdische Genossenschaftsbewegung, die breite Parteienlandschaft sowie die Hilfs­maßnahmen des Joint hinzuweisen, was alles die Juden in Polen erheblich besser stellte als ihre nicht-jüdischen Landsleute und Neid hervorrief. Auch dies wären „materielle“ Gründe, die in der Phantasie der Nicht-Begünstigten ins Unermessliche aufgebläht wurden. Die nachkriegs­polnische Judenpolitik mit ihrer Ambivalenz von Förderung der Ansiedlung und Freigabe der Emigration (wie etwa durch die Grenzöff­nung nach dem Kielce-Pogrom) ist ein bislang noch nicht genügend gewürdigtes Feld historiographischer Betätigung. Gross schildert nur eine Seite davon – sie reicht nicht aus, nicht ein­mal, um die Befindlichkeit der Juden in Polen subjektiv zu umreißen.

Was also als eine sorgfältige historische Arbeit beginnt, gerinnt am Ende zu einer Interpretation der polnischen Nachkriegsereignisse, in der nur noch materielle Erwägungen die polnische Unterschicht gegen die Juden mobilisierten. Mögen monokausale Erklärungen, die zur Wahrheit erklärt werden, bis sich dann en passant her­ausstellt, dass auch noch andere Dinge eine Rolle spielten, einem bestimmten amerikanischen Publikum gefallen, sie unterscheiden sich doch erheblich von dem zweifelnden und (selbst)kritischen Umgang mit der Historie, den andere Forscher zu vermitteln suchen. Die beiden ersten Bücher haben gezeigt, dass man auch in den USA ohne Polemik zur polnisch-jü­di­schen Nachkriegsgeschichte forschen kann.

Frank Golczewski, Hamburg

Zitierweise: Frank Golczewski über: Michael C. Steinlauf Bondage to the Dead. Poland and the Memory of the Holocaust. Syracuse University Press Syracuse, NY 1997. XVI, 189 S., 30 Abb. = Modern Jewish History [poln. Ausgabe: Pamięć nieprzyswojona. Polska pamięć zagłady. Übers. von Agata Tomaszew Wydawn, Cyklady Warszawa 2001. 167 S.]. ISBN: 0-8156-2729-7 / Jonathan Huener: Auschwitz, Poland, and the Politics of Commemoration, 1945–1979. Ohio University Press Athens, OH 2003. XXI, 326 S. = Ohio University Press, Polish and Polish-American Studies Series. ISBN: 0-8214-1506-9: 0-8214-1507-7 / Jan Tomasz Gross Fear: Anti-Semitism in Po­land after Auschwitz. An Essay in Historical Inter­pretation. Random House New York, NY 2006. XVI, 304 S. ISBN: 0-375-50924-0, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Golczewski_Steinlauf_Huener_Gross.html (Datum des Seitenbesuchs)