Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 293-294

Verfasst von: Carsten Goehrke

 

Irėn Andreeva: Častnaja žizn’ pri socializme. Otčet sovetskogo obyvatelja [Privatleben im Sozialismus. Bilanz einer sowjetischen Zeitgenossin]. Predislovie R. Kirsanovoj. Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2009. 342 S., Abb. ISBN: 978-5-86793-738-6.

Hinter der „Zeitgenossin“, welche in diesem Altersrückblick ihre Lebenserfahrungen während der Sowjetzeit bilanziert, verbirgt sich weder eine ehemalige Parteifunktionärin noch eine Dissidentin, sondern eine der bekanntesten russischen Modedesignerinnen aus dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, geboren zu Beginn der dreißiger Jahre. Dieses Berufsfeld bestimmt und begrenzt zugleich den Fokus ihres Blickwinkels – in lokaler Hinsicht dominiert Moskau, in der Wahrnehmung des sowjetischen Alltags spielen ästhetische Kriterien eine besondere Rolle, und seit die gelernte Kunsthistorikerin ihr ästhetisches Empfinden in die angewandte Kunst einbrachte, steht für sie im Mittelpunkt die Welt der Mode. Erst gegen Ende ihrer Berufstätigkeit gab sie – durch die Perestrojka politisch aktiviert – als Mitglied des von Gorbačev ins Leben gerufenen Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR 1989–1991 ein kurzes Gastspiel auch in der hohen Politik. Das Bild, welches sie von dem ihr zugänglichen Leben in der Sowjetunion der dreißiger bis achtziger Jahre entwirft, ist daher das einer gebildeten Moskauerin nichtproletarischer, zudem halbjüdischer Herkunft; das einer Frau, die um ihre Karriere in der Berufswelt stets zu kämpfen hatte, und in politischer Hinsicht das einer weltoffenen, liberalen und international vernetzten Persönlichkeit, die ihre Erinnerungen großenteils in München niedergeschrieben hat.

Um ihren Anspruch einzulösen, die Wahrnehmung des eigenen privaten Umfeldes in seiner Verquickung mit der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft zu erinnern, bedient Andreeva sich eines originellen Konzeptes. Sie teilt ihr Buch hälftig auf in zum einen vier thematische Längsschnitte, welche zentralen Lebenselementen und Sehnsüchten gewidmet sind (dem Auto, der Wohnung, der Datscha und der Kleidung) sowie in einen stärker autobiographisch geprägten Teil, der ihren Berufsweg nachzeichnet, in den beiden kürzeren Schlusskapiteln aber auch ihre politischen Erfahrungen als Volksdeputierte der späten Perestrojkazeit resümiert und ihre Einstellungen zu den großen načal’niki von Stalin bis Jelzin reflektiert. Die größte Hochachtung bringt sie auf Grund persönlicher Begegnungen den beiden Friedensnobelpreisträgern Michail Gorbačev und Andrej Sacharov entgegen. Dem Sowjetsystem weint sie keine Träne nach, haben seine politischen und bürokratischen Exponenten ihren Bemühungen, ein eigenständiges kreatives Modedesign zu entwickeln, welches westliche Einflüsse aufnahm, aber nicht sklavisch nachahmte, doch immer wieder Steine in den Weg gelegt. Köstlich ist in diesem Zusammenhang die Schilderung eines Zusammenstoßes, den sie Ende der sechziger Jahre anlässlich der Jahreskonferenz der sowjetischen Modeverantwortlichen in Minsk mit dem stellvertretenden Minister für Leichtindustrie hatte. Als sie im Minirock mit fast bis zur Hüfte reichenden eng anliegenden Stiefeln zum Rednerpodium stöckelte, um über neueste Modetrends im Ausland auch anhand ihrer eigenen Kostümierung zu referieren, stauchte der erboste Vizeminister, der den Vorsitz führte, sie wie ein Schulmädchen zusammen und wollte sie aus dem Saal weisen. Doch weil alles lachte, besann er sich schließlich, drohte aber, er werde nach dem Vortrag mit ihr abrechnen. Unter vier Augen  lief die Abrechnung dann aber darauf hinaus, dass der hohe Herr ihr vorjammerte, wieviel Leder für diese Langstiefel draufgehen würde und dass die Sowjetwirtschaft sich das nicht leisten könne (S. 136 f).

Das Besondere an Andreevas Buch liegt darin, dass sie den sowjetischen Alltag ihrer persönlichen Lebenswelt mit dem ästhetisch geschulten Auge der Designerin beschreibt. Inneneinrichtungen, Wohnmilieus, Kleidung und Dekors scheinen im Wandel der Jahre mit einer Detailtreue auf, wie man sie in sowjetischen Lebenserinnerungen in dieser Fülle kaum findet. Dabei werden die Begleitumstände des Alltags wie blat, Korruption, Alkoholismus, Warenknappheit, Gewalt und die ständige Suche nach einer menschenwürdigen Wohnung keineswegs ausgeblendet, und die Lebensschicksale der eigenen Verwandtschaft lesen sich wie ein Horrorszenario (S. 74–78). Allein schon das Wohnungskapitel bündelt am Beispiel ihrer Familie exemplarisch die gesamte Geschichte sowjetischer Wohnwelten von der kommunalka der dreißiger und vierziger Jahre bis hin zu ihrer ersten anständigen eigenen Wohnung im Jahre 1992. Da war sie schon sechzig Jahre alt. Verschwägert mit einem hohen Kremlfunktionär, lernte sie auch das luxuriöse Leben der Nomenklatura-Elite kennen und bedauern. Das Schreiben geht ihr leicht von der Hand, aber sie verliert sich nie in der Schilderung ihrer zahlreichen, teils amüsanten, teils bedrückenden Erlebnisse, sondern hält in jedem Kapitel die jeweilige thematische Linie ihres Konzeptes durch und bleibt unbeirrt beim Prinzip der Humanität als ihrem Urteilsmaßstab.

Carsten Goehrke, Zürich

Zitierweise: Carsten Goehrke über: Irėn Andreeva Častnaja žizn’ pri socializme. Otčet sovetskogo obyvatelja [Privatleben im Sozialismus. Bilanz einer sowjetischen Zeitgenossin]. Predislovie R. Kirsanovoj. Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2009. 342 S., Abb. ISBN: 978-5-86793-738-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Goehrke_Andreeva_Castnaja_zizn.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2012 by Osteuropa-Institut Regensburg and Carsten Goehrke. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.