Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 419-421

Verfasst von: Björn M. Felder

 

Frances L. Bernstein, Christopher Burton, Dan Healy: Soviet Medicine. Culture, Practice and Science. DeKalb: Northern Illinois Press, 2010. X, 294 S., 4 Taf., 2 Graph. ISBN: 978-0-87580-426-2.

Als sich im Oktober 1917 die Bolschewiki in Petrograd an die Macht putschten, war neben der ökonomischen und sozialen „Befreiung“ der Arbeiter und Bauern auch die Garantie der zukünftigen Gesundung und medizinischen Versorgung des proletarischen „Volkskörpers“ Teil der politischen Agenda. Die sozialen Utopien implizierten eine neue, staatlich organisierte Gesundheitspolitik, die nicht nur die ärztliche Versorgung sicherstellen, sondern auch die vermeintlichen sozialen Ursachen von Krankheit im Ansatz bekämpfen sollte. So verwundert es nicht, dass die Sozialhygiene zur Leitwissenschaft des ersten Jahrzehnts bolschewistischer Herrschaft wurde. Die russischen Ärzte hatten schon lang die „soziale Reform“ als Prophylaxe von Krankheit, Degeneration und Devianz gefordert. Es überrascht auch nicht, dass mit Nikolaj A. Semaško eine Arzt – und alter Bolschewik – zum ersten Volkskommissar für Gesundheit ernannt wurde. Gleichwohl geraten die sowjetische Medizin sowie das gesamte Gesundheitssystem bisher selten in den Fokus der historischen Forschung. Es ist der Verdienst der Herausgeber des vorliegenden Bandes, der die Ergebnisse einer Konferenz aus dem Jahr 2005 zusammenfasst, einige Spezialisten zum Thema Medizingeschichte in Russland und der Sowjetunion versammelt zu haben.

Der Band behandelt die Anfänge der sowjetischen Medizin von der Revolution bis in die späten Jahre der Breženev-Ära, er endet mit dem zeitgenössischen Ärztebild in der Rückschau auf die späte Sowjetunion und deckt unterschiedliche medizinische Bereiche wie Psychiatrie, Epidemiologie, Pathologie, Toxikologie bis hin zur öffentlichen Hygiene und Abtreibungspolitik ab. Auch werden unterschiedliche Aspekte, von der Medikalisierung im Sinne einer Professionalisierung, aber auch im Sinne der Foucaultschen Bio-Politik, der Monopolisierung und Kontrolle der Gesundheitspolitik, bis hin zur biologisch-medizinischen Bevölkerungspolitik behandelt.

Deutlich werden die starken kolonialistisch-imperialistischen Kontinuitäten vom Zarenreich in die Sowjetunion. So zeigt Dmitrij Mikhel am Beispiel der Bekämpfung der Pest in Zentralasien, wie hier die medizinische Kampagne der Machtstabilisierung der Bolschewiki und der Vernichtung traditioneller Kultur diente. Einen ähnlich kolonialen Blick weist Susan Gross Solomon bezüglich der deutsch-sowjetischen Kooperation im Bereich der Ethnopathologie, einer Spielart der Rassenforschung, in der kirgisischen Steppe nach. Wie sehr Sowjetisierung und Medikalisierung auch eine „innere Kolonisation“ bedeute, beschreibt Michal Z. David in seinem Beitrag zur Tuberkuloseschutzimpfung, die nicht der gesamten Bevölkerung, sondern nur ausgewählten, „wichtigen“ Städten zugute kam. Auch Dan Healy zeigt in seinem Beitrag über die sowjetische Forschung zur sexuellen Reife den Prozess der Biologisierung der Bevölkerung in Verbindung mit rassenbiologischen Ansätzen.

Immer wieder wird deutlich, wie sehr die Medikalisierung, die Ausdehnung des Gesundheitsapparats und die Definitionshoheit der Ärzte mit einer Unterordnung unter die Staatsgewalt einherging. Dies spricht einerseits für die Ausformung des totalitären Staates, ist aber auch Teil des globalen Phänomens der Medikalisierung. So entstand nach 1917 entgegen den Anstrengungen vieler reformbewusster Psychiater, die vor der Revolution eine Dezentralisierung gefordert hatten, eine zentralistisch organisierte und kontrollierte Psychiatrie, wie Irina Sirotkina aufzeigt. Marina Sorokina dokumentiert am Beispiel Katyn, wie sich Ärzte gegen Kriegsende als forensische „Experten“ instrumentalisieren ließen – wenn es auch individuelle Ausnahmen gab –, um den sowjetischen Massenmord an polnischen Offizieren als Tat der Deutschen umzudeuten. Auch die Hungersnöte in der sibirischen und zentralasiatischen Provinzen in den Jahren 194647, die laut Veniamin F. Zina ebenfalls „hausgemacht“, also durch die Stalinsche Führung verantwortet waren, zeigen, wie Ärzte sich hier als Experten durch die Beschreibung und Behandlung von Krankheiten, die durch die Unterernährung hervorgerufen wurden, zu Komplizen der Sowjetmacht machten. In der Phase des „Tauwetters“ nach Stalins Tod wiederum konnten Ärzte freier agieren und etwa im Bereich der Toxikologie auf die immensen Vergiftungen hinweisen, die die Sowjetindustrie durch Umweltverschmutzung bei der Bevölkerung ausgelöst hatte – hierbei wurden die Anstrengungen der Experten freilich von den Apparatschiks ausgebremst. Sowjetische Biopolitik, die Ausweitung der politischen Macht auf den individuellen Körper und Kontrolle durch den Staat, wird anhand des sowjetischen Pro-Natalismus in Form des Abtreibungsverbots nach 1936 deutlich, wie Mie Nakachi darlegt. Biopolitik lässt sich auch bei der staatlichen Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten aufzeigen, wobei laut Frances L. Bernstein auch ein neues Arzt-Patienten-Verhältnis konstituiert wurde, das keine Schweigepflicht mehr kannte. Catriona Kelly zeigt schließlich, dass in der Erinnerung die Ärzte der spätsowjetischen Phase als positiv wahrgenommen werden, was die Autorin als Form von „Ostalgie“ interpretiert.

Insgesamt bestätigt sich das Bild, dass mit der „Kulturrevolution“ und der Ausprägung des Stalinismus zu Beginn der 1930er Jahre auch im Bereich der Medizin und Gesundheitsfürsorge ein Paradigmenwechsel erfolgte: Während zunächst das allgemeine Wohlergehen und die Gesundheit des „Volkskörpers“ im Mittelpunkt stand, erfolgte nun der Wechsel zur generellen Unterordnung aller gesellschaftlichen Bereiche unter die Industrialisierung, die Produktion und die Staatsgewalt. Donald Flitz zeigt die erschreckende Gleichgültigkeit des Staates gegenüber den Lebensverhältnissen und dem Leid der Bevölkerung, so etwa gegenüber der Tatsache, dass Wasserversorgung und sanitäre Anlagen sich seit dem 19. Jahrhundert in Russland kaum geändert hatten. Insgesamt spiegelt sich in vielen Beiträgen der menschenverachtende Blick der stalinistischen Bevölkerungspolitiker wieder: Stalin war laut Zima überzeugt, dass die russischen Frauen genug Kinder bekämen, um die Opfer der Stalinistischen Herrschaft zu kompensieren.

Auch wenn verschiedene Themen wie etwa die Eugenik und die Sozialhygiene kaum angesprochen werden, handelt es sich beim vorliegenden Band ganz sicher um einen Meilenstein in der Geschichte der Medizin der Sowjetunion, der die Forschungstradition der Bände von Hutchinson und Gross Solomon aus den 1990er Jahren fortführt, erweitert und vertieft. Ganz sicher wird der Band aufgrund der politischen und sozialen Implikationen, die in den Beiträgen aufgezeigt werden, auch interessierte Leser außerhalb der Medizingeschichte finden.

Björn M. Felder, Göttingen

Zitierweise: Björn M. Felder über: Frances L. Bernstein, Christopher Burton, Dan Healy: Soviet Medicine. Culture, Practice and Science. DeKalb: Northern Illinois Press, 2010. X, 294 S., 4 Taf., 2 Graph. ISBN: 978-0-87580-426-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Felder_Bernstein_Sow_Medizin.html (Datum des Seitenbesuchs)

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