Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Sandra Evans

 

Philipp Pott: Moskauer Kommunalwohnungen 1917 bis 1997. Materielle Kultur, Erfahrung, Erinnerung. Zürich: Pano, 2009. 312 S., Abb. = Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, 17. ISBN: 978-3-290-22001-3.

Zunehmend wird deutlich, dass Wohn- und Lebenswelten nicht nur soziale Beziehungen prägen, sondern auch Aspekte gesellschaftlicher Verhältnisse reflektieren. Dementsprechend nimmt das wissenschaftliche Interesse an der berühmt-berüchtigten Kommunalwohnung in der sowjetischen Alltags- und Kulturgeschichte deutlich zu. Irina Ėrenburg, Il’ja Ėrenburgs Tochter, bestätigt in ihren Erinnerungen Svetlana Boyms Qualifizierung der Kommunalwohnung als Mikrokosmos der Sowjetunion folgendermaßen: „Hier drängelte sich alles“. (Irina Ehrenburg So habe ich gelebt. Berlin 1995, S. 55) Die kommunalka war demokratisch insofern, als sie ein schichten- und milieuübergreifendes Phänomen war und den Großteil der urbanen Sowjetbevölkerung in ihre Geschichte(n) einschloss. Sie ist damit ein Laboratorium für die Untersuchung der komplexen Beziehung zwischen Parteistaat und Gesellschaft, zwischen Kollektiv und Individuum sowie der daraus entstehenden Komplexitäten zwischenmenschlicher Beziehungen in einem hoch politisierten Erfahrungs- und Lebensraum.

Im Sinne von Karl Schlögels Plädoyer, sich die „Topographie der sowjetischen Lebenswelt“ als auch die „Koordinaten des geistigen und soziokulturellen Raumes“ zu erschließen, (Karl Schlögel Kommunalka – oder Kommunismus als Lebensform. Berlin 2002, S. 131) veröffentlichte in der deutschsprachigen Osteuropaforschung Ju­lia Obertreis 2004 die erste grundlegende Studie mit dem Titel „Tränen des Sozialismus. Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie 1917–1937“, die der sowjettypischen Kommunalwohnung gewidmet ist. Während Obertreis eine Mikroanalyse eines Hauses auf der Fontanka in St. Petersburg vorgelegt hat, in der sie nicht nur den häuslichen, sondern auch den baupolitischen Alltag mithilfe einer beeindruckend detaillierten Archivarbeit darstellt, liefert Pott dagegen eine umfassende Makroanalyse. Seine Dissertationsschrift, mit der er versucht, die Lebenswelt der Menschen und deren (Wohn-)Alltag nachzuzeichnen, bietet einen umfangreichen Überblick über diese „furchtbare“ Lebensform, wie sie wiederholt in Erinnerungen beschrieben wird. Mit dieser Arbeit füllt Pott eine wichtige Lücke in der sowjetrussischen Alltags- und Kulturgeschichte.

Als einer „der zentralen Orte des sowjetischen Alltagslebens“ (S. 15) wird die kommunalka aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet: Es geht um die materielle Kultur, um Erfahrungen und um Erinnerungen an die Lebensverhältnisse in der kommunalka. Diesen Betrachtungen schickt Pott einen baugeschichtlichen Überblick voraus, sowie eine theoretische Vorbemerkung zu lebensgeschichtlichen Interviews. Seine Entscheidung, die gesamte Geschichte der kommunalka darzustellen, hat, wie Pott auch selbst zugibt, Vor- und Nachteile. (S. 18) Wenn er erschöpfend zentrale Attribute der kommunalka-Lebenswelt präsentiert, indem er unterschiedlichste Quellen wie beispielsweise Gerichtsakten oder Anekdoten analysiert, kann diese Analyse lediglich oberflächlich ausgeführt werden, speziell über eine Zeitspanne von 80 Jahren. Darüber hinaus besteht die Gefahr für den Leser, die Bedeutung lebensweltlicher Besonderheiten aufgrund unzureichender historischer bzw. theoretischer Kontextualisierung zu verkennen.

Im ersten Hauptteil zur materiellen Kultur versucht Pott eine Typisierung der kommunalka-Architektur. Wegen der grundsätzlich verschiedenartigen Bausubstanz bürgerlicher Wohnungen sowie der Beschaffenheit und Einrichtung des jeweiligen eigentlichen Wohnraums sind kommunalki sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Deshalb ist eine architektonische Typisierung dieser Art meines Erachtens weder möglich noch notwendig. Wichtiger ist eine Typisierung der allgemeinen Räume, die Pott in der darauf folgenden Sektion vornimmt. Mittels lebensgeschichtlicher Erinnerungen aus selbst geführten Interviews rekonstruiert Pott Eigenschaften und Funktionen der Räume gemeinsamer Nutzung sowie darin stattfindende Aktivitäten und Rituale, die sowohl für die (geistige und soziokulturelle) Gestaltung als auch für das Verständnis des sowjetischen Alltags maßgeblich waren und weiterhin sind. Diese Beschreibungen ermöglichen einen vielschichtigen Zugang zur Topographie der kommunalka, um das eigentliche Wesen der kommunalka zu ergründen. In diesem Sinne gelingt es Pott, „aus der Vielfalt des Biographischen sowie des materiell und räumlich Fassbaren Netze zu knüpfen“ (S. 20), allerdings müsste Pott unterschiedliche Ebenen der Analyse stets in Bezug zueinander setzen, um diese weitere Analyseebene und unterschiedliche „Bedeutungsschichten für ein Gesamtverständnis der Kommunalka“ (S. 15) zu ermöglichen.

Im Titel des zweiten Hauptteils führt er die Begriffe Erleben, Erfahren und Wahrnehmen auf, deren Bedeutung Pott allerdings nicht weiter definiert oder unterscheidet. Zwar erwähnt er in der Einleitung, dass sein Ausgangspunkt das Konzept der Lebenswelt ist, mit dem er den Blick auf „den unmittelbaren Lebenszusammenhang von handelnden und erfahrenden Individuen richtet“ (S. 19), dennoch wäre eine weitere begriffliche Definition und theoretische Einbindung notwendig für kulturwissenschaftlich so brisante Begriffe wie Erleben, Erfahren und Wahrnehmen. Im Gegensatz dazu bietet Pott einen aufschlussreichen theoretischen Rahmen für die Betrachtung der kommunalka als Erinnerungsort mithilfe Pierre Noras lieux de mémoire. Gekonnt bringt er ihn in seiner Schlussbemerkung in Verbindung mit Kabakovs kommunalka-Installationen und setzt diese wiederum mit den Erinnerungen der ehemaligen Mitbewohner gleich.

Die vorgebrachte Kritik verringert allerdings nicht die Relevanz dieser übergreifenden und nahezu enzyklopädischen Arbeit für die kommunalka-Forschung. Neben wichtigen, meist negativ besetzten Themen wie dem scheinbar unlösbaren Konflikt, der destruierten Intimität, lebensgefährlichen Denunziationen und dem ausgefeilten Wohnungstausch berücksichtigt Pott positive Begebenheiten wie zum Beispiel Solidarität und die Hilfsbereitschaft der Nachbarn. Pott gelingt ein diversifizierter Blick auf diese emotionsgeladene und von Stereotypen behaftete Lebensform. Weiterführend ist seine Untersuchung auch zu prägenden kollektiven Vorstellungen von kommunalki und nachbarschaftlichen Beziehungen, die nicht nur in den Erinnerungen transportiert werden, sondern auch in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dieser sowjettypischen Lebensform.

Da die Kommunalwohnung letztendlich eine geeignete und wichtige Kulisse für Autoren bietet, um die Skurrilität und Absurdität des sowjetischen Alltags zu beschreiben, erweitert Pott den Denk- und Analyseraum durch die Symbolik und Motivik in der literarischen und filmischen Darstellung der kommunalka. Mithilfe der Spannung zwischen den fiktiven und nicht-fiktiven Lebensgeschichten ehemaliger Bewohner macht Pott „die qualitativen Wandlungen des kulturellen Symbols Gemeinschaftswohnung im Zeitraum ihres Bestehens nachvollziehbar.“ (S. 236)

Lobenswert ist, dass Pott seine Bibliographie in unterschiedliche Genres wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Literatur aufgegliedert hat. So fungieren seine Bibliographie als eine wertvolle, leicht lesbare Ressource und sein Buch insgesamt als Nachschlagewerk der kommunalka-Geschichte(n). Mit seinen topographischen und thematischen Ausarbeitungen liefert Pott eine Basis für weiterführende Analysen der sowjetischen Alltags- und Kulturgeschichte.

Sandra Evans, Tübingen

Zitierweise: Sandra Evans über: Philipp Pott Moskauer Kommunalwohnungen 1917 bis 1997. Materielle Kultur, Erfahrung, Erinnerung. Zürich: Pano, 2009. = Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, 17. ISBN: 978-3-290-22001-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Evans_Pott_Moskauer_Kommunalwohnungen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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