Peter Oliver Loew, Pletzing Christian, Thomas Serrier (Hrsg.) Wiedergewonnene Geschichte. Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas. Harrasowitz Verlag: Wiesbaden 2006. 408 S., 28  Abb. = Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts, 22.

Der Tagungsband „Wiedergewonnene Geschichte“ versammelt die Beiträge einer im Oktober 2004 von der Academia Baltica (Lübeck), dem Deutschen Polen-Institut (Darmstadt) und dem Centre interdisciplinaire de recherches centre-européennes (Paris) veranstalteten Konferenz. Gegliedert in die Kategorien Stadt, Region und Symbole, versammelt er 20 Studien aus den sich nationalen Narrativen entziehenden ‚Zwischenräumen Mitteleuropas‛. Der geographische Fokus liegt auf dem Elsass sowie den ‚wiedergewonnenen Gebieten‛ im Westen Polens, ergänzt um das Baltikum, Kaliningrad sowie die polnisch-slowakisch-ukrainische Grenzregion.

Im Vorwort erläutern die Herausgeber die im Titel postulierte ‚Wiedergewinnung‛ der Geschichte als widerständige Konstruktion der Region im Gegensatz zu der von nationalen Narrativen angestrebten Uniformisierung. Den Umgang mit der Vergangenheit im Zuge politischer Umbrüche – Verdrängung und versuchte Auslöschung, selektive Wiederentdeckung und (Wieder-)Aneignung – illustriert die Mehrzahl der Beiträge anhand materieller Objekte wie im Versuch, die Vergangenheit und ihre Rezeption dingfest zu machen.

Eine erste Kategorie bilden dabei ‚fremde‛, als Relikte der früheren Bewohner überdauernde Alltagsgegenstände: Das Gedicht „Kalt-Warm‟ von Artur Daniel Lisowacki bietet zunächst eine poetische Einstimmung; Dorota Ba­zuń analysiert den Umgang der Siedler in den polnischen Westgebieten mit den zurückgelassenen deutschen Gebrauchsgegenständen; To­masz Rakowski beschreibt die Geschichtserfahrung der „unfreiwilligen Archäologen‟ in der ab­gewickelten sozialistischen Bergbauregion Wal­denburg.

Alltägliche Gebrauchsgegenstände, Denkmäler, öffentliche Bauten und Toponyme bilden die Zeichenlandschaft der Stadt, deren Politisierung und Nationalisierung einen Schwerpunkt des Bandes darstellt: Am Beispiel Breslaus beschreibt Jacek Grębowiec die umfassende „Repolo­nisierung“ nach 1945 mit Blick auf die Integration der Nachkriegsbevölkerung. Die Bedeutung der zugeschriebenen ‚Nationalität‛ bzw. der empfundenen ‚Vertrautheit‛ oder ‚Fremdheit‛ von Baudenkmälern in den Diskussionen um Abriss oder Wiederaufbau nach 1945 sowie die zunehmende Öffnung der Stadtgeschichte nach 1989 behandeln Jan Musekamp am Beispiel des Stettiner Theaterplatzes, Barbara Bossak anhand der Stadtlandschaft Danzigs und Jörg Hackmann am Thema des Rigaer Rathausplatzes. Anhand der Kriegerdenkmäler im Elsass schildert Christiane Kohser-Spohn die Prob­lematik des Gedenkens zwischen lokalen Er­innerungen und nationalen Narrativen. Mit den Prozessen von Namensgebung und Umbenennung als Versuch nationaler Aneignung im deutsch-polnischen Zwischenraum beschäftigen sich die Aufsätze von Christian Pletzing und Ste­fan Dy­roff.

Neben dem städtischen Raum unterliegt auch die Naturlandschaft Nationalisierungsbemühungen: Am Beispiel des Sankt Annaberges, dessen Abbildung den Bucheinband symbolstark illustriert, zeigt Juliane Haubold den Widerstreit deutscher und polnischer Narrative im Kampf um politische Macht und Deutungshoheit in Oberschlesien; Jean-Marc Dreyfus schildert die Vogesengipfel als ‚Grenzgebirge‛ zwischen deutschen und französischen Geschichtsbildern.

Im direkten Vergleich des deutsch-polnischen und deutsch-französischen Zwischenraumes analysiert Thomas Serrier die Geschichtspolitik der Kaiserzeit in Posen und Straßburg; Ryszard Kaczmarek erörtert die Evolution regionalpolitischer Konzeptionen in Elsass und Oberschlesien. Maciej Górnej beschäftigt sich mit der Wahrnehmung ‚exotischer‛ Grenzregionen – des Huzulenlandes in Polen und der Karpatoukraine in der Tschechoslowakei.

Hinsichtlich der Frage der Vermittlung nationaler Deutungsangebote zu Städten und Regionen untersucht Peter Oliver Loew die Entwicklung des Danziger Heimatkundeunterrichts, Marek Rajch die Zensurpolitik der preußi­schen Behörden bezüglich polnischer Publikationen zu geschichtlichen Themen und Armin von Ungern-Sternberg die Tradierung nationaler Geschichtsbilder in literarischen Figuren der deutschbaltischen Literatur.

Der Frage der Identität der Neuankömmlinge in der Konfrontation mit der ‚fremden‛ Vergangenheit ihrer neuen Heimat verfolgen Joanna Wawrzyniak am Beispiel der Soldatensiedler in den polnischen Westgebieten, Alexander Solo­gu­bov am Beispiel Kaliningrads und Katarzyna Stokłosa in einer vergleichenden Studie über die Einwohner Guben/Gubins und Užhorods.

Die im Band versammelten Studien spiegeln die Komplexität der Identitätsfindungen der Bewohner in den Zwischenräumen Europas zwischen Ideologie und Alltagspragmatik, im Zusammen- und Gegenspiel lokaler und zentralstaatlicher Akteure wider. Étienne François verweist in seinem Resümee treffend auf die Ähnlichkeit der vorgestellten Aneignungsnarrative. Mehrere Autoren konstatieren das Scheitern bisheriger nationaler, auf Eindeutigkeit zielender Aneignungsversuche – dementgegen beobachten sie nach 1989 einen gegenläufigen Trend zur ‚Wiedergewinnung‛ und Integration der ‚fremden‛ Geschichte in eine eigene, lokale und bewusst polyphone Identität.

Iris Engemann, Frankfurt/Oder

Zitierweise: Iris Engemann über: Peter Oliver Loew, Pletzing Christian, Thomas Serrier (Hrsg.): Wiedergewonnene Geschichte. Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas. Harrasowitz Verlag: Wiesbaden 2006. = Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts, 22. ISBN: 978-3-447-05297-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 423-424: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Engemann_Loew_Wiedergewonnene_Geschichte.html (Datum des Seitenbesuchs)