Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Stefan Dyroff

 

Thomas David Nationalisme économique et industrialisation. L’expérience des pays de l’Est (1789–1939). Préface Ivan T. Berend. Librairie Droz S. A. Genève 2009. 478 S., Tab., Ktn. = Publications d’historie économique et sociale internationale, 24. ISBN: 978-2-600-01272-0.

Die vorliegende Monografie des Lausanner Wirtschaftshistorikers Thomas David zum Wirtschaftsnationalismus im östlichen Europa ist das Ergebnis einer akribischen Erfassung statistischer Daten, die er sowohl Archiven als auch zeitgenössischen Publikationen entnimmt. Diese werden auf der Grundlage einer umfassenden Lektüre aktueller Forschungsliteratur erklärt und gedeutet. Dabei stellen seine Ausführungen über die Wirtschaftsgeschichte in den Staaten Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien in der Zwischenkriegszeit sowie ihrer historischer Vorläufer im langen 19. Jahrhundert zum großen Teil Transferleistungen für die französischsprachige Wissenschaft dar. Er paraphrasiert und resümiert vor allem in Deutsch und Englisch publizierte Forschungsergebnisse. Mit Ausnahme des Rumänischen, das er als französischer Muttersprachler lesen kann, bezieht sich David nicht auf Publikationen in osteuropäischen Sprachen, die in Französisch und Italienisch verfasst wurden. Sein Verzicht auf ein eigenes Quellenstudium im östlichen Europa sowie die sprachlich bedingten Defizite bei der Erfassung der neusten Forschungsliteratur in osteuropäischen Sprachen kann sicherlich kritisiert werden, würde jedoch das eigentliche Ziel des Buches verkennen. Seine Arbeit ist ein Versuch, wirtschaftliche Entwicklungstheorien und ökonometrische Modelle am Beispiel des östlichen Europa empirisch zu überprüfen. Dabei überzeugt der Autor durch seine gute Kenntnis globaler wirtschaftshistorischer Entwicklungen, wobei aus dieser Perspektive ein Ausbau seiner meist nur angedeuteten Vergleiche mit anderen peripheren Weltregionen wie Lateinamerika, dem Nahen Osten und Südostasien wünschenswert gewesen wäre.

Auch wenn David mit seinem Buch einen in den letzten Jahren unter anderem von Ivan Berend und Györgi Ránki (The european periphery and industrialization, 1780–1914. Cambridge 1982) sowie Derek Aldcroft (Europe’s Third World. The European Periphery in the Interwar Years. Aldershot 2006) vertretenen Ansatz verfolgt und gemäß der Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein das östliche Europa als Peripherie oder Semi-Peripherie in einer von Nordwesteuropa dominierten Weltwirtschaft versteht, öffnet die Lektüre seines Werkes neue Perspektiven. Kenner der Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas können sich zu deren Erfassung auf die Lektüre der Einleitung sowie der Schlussfolgerungen beschränken, da hier die wichtigsten Ergebnissen und Thesen vorgestellt und diskutiert werden. Die Lektüre der restlichen 350 Seiten, die eher deskriptiv sind und seine Thesen für nicht mit dem östlichen Europa vertraute Wirtschaftshistoriker erläutern, ist dafür nicht erforderlich. David versteht ähnlich wie Jan Kofman (Economic Nationalism and Development: Central and Eastern Europe between the two World Wars. Boulder 1997) den Wirtschaftsnationalismus als vom Staat gewählte Entwicklungsstrategie in einer sich globalisierenden Weltwirtschaft, deren Ziel die Überwindung der volkswirtschaftlichen Rückständigkeit des eigenen Staates ist. Dabei ist die Gesellschaft zwar entscheidend für das Gelingen der Strategie, als bestimmender Akteur tritt jedoch der Staat auf. Er geht daher nicht auf die Wirtschaftsgesinnung nationaler Minderheiten ein.

David unterscheidet zwischen drei Phasen dieses Wirtschaftsnationalismus. Die Zeit zwischen 1780 und 1860 charakterisiert er als protonational, da in den meisten Staaten bzw. teilautonomen Regionen der Großreiche das Nationalbewusstsein noch schwach ausgebildet war. Die staatlichen Eliten reagierten auf ihre zunehmende wirtschaftliche Rückständigkeit und sahen in der staatlich geförderten Industrialisierung einen Ausweg aus dieser Situation. Musterbeispiel dieser Strategie ist der Aufbau der Textilindustrie im Königreich Polen sowie die im Vergleich weniger erfolgreiche Förderung des Bergbaus. Dabei spielt es in dieser Zeit keine Rolle, dass die tragenden Akteure der wirtschaftlichen Entwicklung zum großen Teil Ausländer sind, die durch Steuererleichterungen und weitere Privilegien als Unternehmen und Investoren nach Polen kommen.

Dieses etatistische Wirtschaftsdenken wird in der zweiten Phase zwischen 1860 und 1914, die von David als liberaler Wirtschaftsnationalismus bezeichnet wird, durch ein zunehmend ethnisches Verständnis der Volkswirtschaft abgelöst. Als Reaktion auf die zunehmende Konkurrenz aus Übersee beim Absatz der eigenen Agrarprodukte auf dem westeuropäischen Markt versuchen die Staaten durch eine Politik der selektiven Förderung bestimmte Industriezweige auf das Niveau der weltwirtschaftlichen Konkurrenz zu heben. Dabei wird diese Politik im Gegensatz zur ersten Phase nun nicht mehr von alten (vorwiegend aristokratischen) Eliten bestimmt, sondern vom sich im Aufbau befindenden Apparat der sich aus Akademikern zusammensetzenden Staatsbürokratie. Dieser bekämpft dabei nicht nur die ausländische Konkurrenz, sondern auch den Einfluss ethnischer Minderheiten auf das nationale Wirtschaftsleben. Als gewisses Paradox ist hier Ungarn zu nennen, das seine jüdische Bevölkerung in die Volkswirtschaft integriert, um so den Anteil anderer Minderheiten (Deutsche, Rumänen, Slowaken, Kroaten, Serben) an der nationalen Wirtschaft zu schwächen. In seinen Schlussfolgerungen führt David das in dieser Zeit schwache Wachstum der meisten Volkswirtschaften neben dem mangelnden Bildungsniveau der Bevölkerung auf die dieses ethnische Nationsverständnis bedingte beschränkte wirtschaftliche Kooperation der in den Staaten vertretenen gesellschaftlichen Gruppen zurück. Ein weiterer Faktor ist die wachsende Abhängigkeit der Staaten von spezifischen Interessengruppen, die nur die Entwicklung ihres eigenen Wirtschaftszweiges, nicht aber die der gesamten Volkswirtschaft im Blick haben.

Diese beiden Faktoren sind auch für die dritte Phase in der Zwischenkriegszeit bedeutend, die vom Autor ohne weitere Attribute mit Wirtschaftsnationalismus überschrieben wird. Seine Ausführungen lassen sich derart zuspitzen, dass bürokratische Eliten ihre an eigenen Interessen orientierte Wirtschaftspolitik mit einer national(istisch)en Rhetorik versahen, um von sozialen Spannungen abzulenken und damit ihre eigene Führungsposition zu sichern.

David kontrastiert die mehrheitlich fehlgeschlagene Entwicklungsstrategie der Staaten des östlichen Europa mit dem erfolgreichen Nachholprozess Finnlands. Diesen erklärt er durch externe Faktoren wie der Existenz konkurrierender Absatzmärkte (Deutschland und Großbritannien) und der Konjunktur der Holzwirtschaft sowie interne Komponenten wie das hohe Bildungsniveau der Bevölkerung und die im Vergleich zu den Staaten des östlichen Europa stärkere Partizipation aller gesellschaftlicher Schichten am Wirtschaftswachstum. Damit macht er deutlich, dass eine forcierte Industrialisierung allein keine erfolgreiche Integration peripherer Regionen in die Weltwirtschaft und eine daraus resultierende Reduktion der wirtschaftlichen Abhängigkeit mit sich bringt. Eine sich zur Verifizierung dieser These anbietende Weiterführung seines Ansatzes in Bezug auf die Zeit des Kalten Krieges sieht er in der Einleitung als möglich an, geht jedoch nicht näher darauf ein.

Stefan Dyroff, Bern

Zitierweise: Stefan Dyroff über: Thomas David Nationalisme économique et industrialisation. L’expérience des pays de l’Est (1789–1939). Préface Ivan T. Berend. Librairie Droz S. A. Genève 2009. = Publications d’historie économique et sociale internationale, 24. ISBN: 978-2-600-01272-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Dyroff_David_Nationalisme_economique.html (Datum des Seitenbesuchs)

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