Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke (Hrsg.) Die Chronik des Gettos Lodz/‌Litzmannstadt. 5 Bände. Wallstein Verlag Göttingen 2007. Band 1: 463 S., 28 Abb.; Band 2: 832 S., 43 Abb.; Band 3: 783 S., 32 Abb.; Band 4: 527 S., 30 Abb.; Band 5: 448 S., 30 Abb. = Schriftenreihe zur Łódzer Getto-Chronik.

Im nationalsozialistischen Dritten Reich war Lodz die größte Stadt in den annektierten westpolnischen Gebieten. Sie verfügte zugleich über die höchste jüdische Einwohnerzahl einer Stadt im Reichsgebiet. Nach der Flucht von Zehntausenden, die sich weiter östlich in Sicherheit zu bringen versuchten und ersten Deportationen aus der Umgebung, lebten hier im Winter 1940 noch etwa 160 000 Personen, also rund 5% der polnischen Juden. Die meisten von ihnen wurden unter dem NS-Regime gezwungen, in ein heruntergekommenes Viertel am Rande der Innenstadt zu ziehen, wo schon 60 000 jüdische Einwohner lebten. Dieses Gebiet von rund 4 km² schlossen die Nationalsozialisten Ende April 1940, drei Wochen nach der Umbenennung von „Lodsch“, wie sie es anfangs nannten, in „Litzmannstadt“, mit Zäunen und Stacheldraht völlig ein; die Wachen der deutschen Schutzpolizei hatten Schießbefehl.

Das jüdische Vertretungsorgan unter dem „Ältesten der Juden“, dem „Präses“ Chaim Rum­­kow­ski, wurde für die internen Belange in „Litzmannstadt-Ghetto“ verantwortlich gemacht. Er unterbreitete den Eroberern, deren Ge­waltregime sich seit September 1939 durch einen skrupellos brutalen antijüdischen Terror auszeichnet hatte, das Angebot, die jüdische Arbeitskraft zum Nutzen der deutschen Kriegswirtschaft einzusetzen. Damit sollte die Existenz der in beispiellosem Umfang enteigneten und beraubten jüdischen Bevölkerung gewährleistet werden.

Für die Nationalsozialisten war die Absperrung des Gettos eine Übergangsmaßnahme, der innerhalb eines halben Jahres die restlose Abschiebung in das Generalgouvernement folgen sollte. Doch als diese sich nicht durchführen ließ, verwandelten sie das Provisorium auf Betrei­ben Rumkowskis in ein „Arbeitsghetto“, das vor allem Aufträge der Wehrmacht erfüllte. Produktion und Warenverkehr wurden von der deutschen „Ghetto-Verwaltung“ gelenkt, die der Bremer Kaufmann Hans Biebow anführte.

Während die unmenschliche ökonomische Ausbeutung zahlreichen Insassen ein zeitweiliges Überleben ermöglichte, diente das Getto 1941/42 als Abladeplatz für Juden, die aus unterschiedlichen Teilen des Reichsgebiets und besonders aus den aufgelösten jüdischen Gemein­den des östlichen Warthegaus hierher deportiert wurden. Außerdem wurden hier 5000 Ro­ma einquartiert. Insgesamt etwa 45.000 Insassen fielen den elenden, von Man­gelernährung und Krankheiten geprägten Existenzbedingungen zum Opfer. Anfang 1942 gingen die Nationalsozialisten dazu über, die nicht arbeitenden Getto-Insassen zu ermor­den; bis September wur­den etwa 70 000 von ihnen in das Tötungszentrum Chełm­no/Kulm­hof deportiert. 1943, im ruhigsten Jahr seines Bestehens, beherbergte das Getto noch zwischen 85.000 und 90.000 Insassen. Die 1944 Verbliebenen ermordeten die Nationalsozialisten zum kleineren Teil im Juni/Juli in Chełmno, zum größeren Teil im August in einer abschließenden Mordkampagne nach dem Abtransport in das Lager Auschwitz-Birkenau. Nur etwa 3% der ehemaligen Insassen von „Litz­mannstadt-Ghetto“ erlebten das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft.

Der Rumkowski unterstehende Verwaltungsapparat verfügte über ein Archiv, in dem seit Januar 1941 das alltägliche Geschehen innerhalb der Umzäunung vermerkt wurde. Auf diese Weise entstand eine einzigartige Sammlung von Dokumenten. Die deutsche Getto-Verwaltung hatte von dem Projekt offenbar keine Kenntnis (Band 5, S. 175), anderenfalls hätte sie gewiss darin Einblick genommen oder sich der Dokumente am Ende bemächtigt. So überstanden die Papiere wie durch ein Wunder und dank der Tatsache, dass Nachman Zonabend sie im Oktober 1944 verbergen konnte, die Vernichtung des Gettos.

Von Danuta Dąbrowska bzw. Lucjan Do­broszycki edierte Teile bzw. Auszüge erschienen Mitte der sechziger Jahre auf polnisch und 1984 auf englisch. Erstaunlicherweise entdeckte der deutsche Forschungsbetrieb den außerordentlichen Wert dieser Quelle erst später. Doch hat eine überdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftlern der „Arbeitsstelle Holocaustliteratur“ der Universität Gießen nun in Zusammenarbeit mit Kollegen aus Lodz eine vollständige, verschiedene Überlieferungen einbeziehende Edition dieser Chronik vorgelegt, die mit Endnoten sehr gründlich kommentiert wurde. Der Kommentierungsbedarf verringert sich von einem Viertel des Gesamtumfangs in den ersten beiden Bänden auf weniger als ein Achtel im 3. und 4. Band.

Die ersten vier Bände enthalten die Tageschroniken, die in den dreieinhalb Jahren von 1941 bis 1944 verfasst wurden und, so Mithrsg. Sascha Feuchert, „die wahrscheinlich umfangreichste Dokumentensammlung einer jüdischen Verwaltung“ aus der Zeit des nationalsozialistischen Judenmords darstellen (Band 5, S. 168). Der Chroniktext allein umfasst einschließlich der Anhänge über 2000 Buchseiten. Jedem Band ist eine knappe Einleitung von Andrea Löw und Sascha Feuchert vorangestellt, dem ersten auch dessen Vorwort, in dem er das Gesamtunternehmen umreißt. Vertiefende, ausführlichere Begleittexte von Andrea Löw und den Hrsg. finden sich im fünften Band, der auch Erläuterungen zur Editionspraxis, abweichende Text­fassungen und eine Reihe von Einzeltexten der Chronisten umfasst, die in die eigentliche Chro­nik nicht aufgenommen wurden.

Der Aufbau der Tageschronik ist standardisiert: Er enthält jeweils zu Beginn die laufende Nummer, Wochentag und Datum, Angaben zur Wetterlage, zur Bevölkerungsentwicklung, nicht zuletzt den Selbstmorden, und dann kurze, meist aus einigen Zeilen bestehende Mitteilungen zu Vorkommnissen, die sich an dem betreffenden Tag ereignet hatten. Dabei überwiegen jene, die für das Überleben am wichtigsten waren: die (Unter-)Versorgung des Getto-Arbeitslagers mit Waren des täglichen Bedarfs, insbesondere mit Nahrungsmitteln und – im Winter – Heizmaterial, sowie deren gerechte Verteilung, die Auftragslage der Fertigungsbetriebe und während der Deportationen der Fortgang der angeblichen „Aussiedlungen“. Mitunter greifen ergänzende Bei­lagen in Berichten jene Themen auf, die an dem fraglichen Tag von besonderer Bedeutung waren.

Die Sprache der Aufzeichnungen war bis Au­gust 1942 durchgängig Polnisch, dann für einen Übergangszeitraum zweisprachig und seit 1943 nur noch Deutsch. Der Wechsel hing mit Veränderungen in der Gruppe zusammen, welche die Chronik erarbeitete. Sie bestand zunächst aus einheimischen Publizisten unter der Leitung des Gründers der Chronik, Julian Cukier (1904–1943). Mit der Vertreibung von Westjuden nach „Litzmannstadt-Ghetto“ gelangten im Herbst 1941 Journalisten aus dem deutschsprachigen Raum zu der mit der Chronik befassten Gruppe, unter ihnen der Wiener Zionist Dr. Oskar Rosenfeld (1884–1944) und Dr. Os­kar Singer (1893–1944) aus Prag, der um die Jahreswende 1942/43 die Leitung übernahm. Im täglichen Leben und in der Verwaltung spielte auch die jiddische Sprache eine bedeutende Rolle, bis Biebows Verwaltung sie zurückdrängte, unter anderem im Oktober 1942 mit dem Versuch, die hebräische Schrift aus dem Getto zu ver­bannen (Band 2, S. 505). Über die Erfahrungen einer geübten Sekretärin in der sprachlich so anders gearteten neuen Umgebung nach der Zwangs­umsiedlung aus Wien berichtet aus dem Einwohnermeldeamt Alice de Buton im Juni 1942: „Man sitzt wie in einem Bienenschwarm: polnisch, jiddisch, hebräisch – nur nicht deutsch. Man ist völlig isoliert, hat keine Ahnung von dem, was gesprochen wird und möchte doch so gerne daran teilnehmen“ (Band 5, S. 21).

Eine Fassung der „Chronik des Ghettos Lodz/Litzmannstadt“ in polnischer Sprache soll bald folgen. Dann wird man auch die übersetzten Teile im Originalwortlaut nachlesen können. Erste Stichproben zeigen, dass die Übertragung immer wieder ungelenk und stellenweise ungenau ist. Beide Editionen werden – so viel lässt sich bereits voraussagen – als unerlässliches Quel­lenmaterial für die weitere Erforschung des nationalsozialistischen Judenmords dienen und Aspekte des Alltagslebens im Getto-Arbeits­lager stärker in den Vordergrund rücken. Die Nutzbarkeit der Edition wird durch das Fehlen eines Sachregisters beeinträchtigt; auch ein Verzeichnis der in den Tageschroniken verwendeten Abkürzungen sucht man vergebens.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke (Hrsg.): Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt. ISBN: 978-3-89244-834-1, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Die-Chronik-des-Gettos-Lodz-Litzmannstadt_DF.html (Datum des Seitenbesuchs)