Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 435-437

Verfasst von: Hans-Christian Dahlmann

 

Jan Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 423 S., 22 Abb., 2 Ktn. = Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt, 27. ISBN: 978-3-447-06273-2.

Wer Stettin zum ersten Mal besucht hat und ziellos durch die Straßen gewandelt ist, verlässt die Stadt mit sehr zwiespältigen Eindrücken. Sie hat ihm eine Reihe von Rätseln aufgegeben, die zu lösen sich diese Arbeit zum Ziel gesetzt hat.“ – Diese Sätze schreibt Jan Musekamp in der Einleitung zu seiner 2008 an der Viadrina-Universität (Frankfurt an der Oder) als Dissertation angenommenen Arbeit (S. 15). Musekamp führt den Leser durch Stettin, hat seine Studie allerdings nicht als Beitrag zur Lokalgeschichte angelegt, sondern will paradigmatisch untersuchen, wie eine an der Peripherie gelegene Großstadt in einem kommunistischen System nach großer Zerstörung und fast totalem Bevölkerungsaustausch wiedererstehen konnte, und mit welchen Strategien sich die heterogene Bevölkerung die Stadt kulturell aneignete (S. 21). Der Autor knüpft damit an ähnliche Studien zu anderen Städten an wie insbesondere an die Arbeit von Gregor Thum über Breslau (Die fremde Stadt. Breslau 1945. Berlin, 2003), auf die er sich mehrfach bezieht.

Musekamps Studie umfasst drei Hauptkapitel. Im ersten untersucht er den Bevölkerungsaustausch der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach der Vertreibung der Deutschen waren Repatrianten aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten mit 31 % keinesfalls die Bevölkerungsmehrheit, sondern die größte Gruppe bildeten mit 63 % Umsiedler aus Zentralpolen. Daneben lebten in der Stadt einige Remigranten aus Berlin, dem Ruhrgebiet und Frankreich, und außerdem polnische Juden, Ukrainer, Lemken sowie vor dem griechischen Bürgerkrieg entflohene Makedonier und Griechen. Musekamp fragt, ob in dieser gemischten Bevölkerung der neue Typ eines Stettiners entstand, wie es in den Anfangsjahren nach dem Krieg von offizieller Seite proklamiert wurde. Anders als offiziell behauptet war der Integrationsprozess jedoch sehr langwierig und dauerte bis in die 60er Jahre. Unter anderem an Eheschließungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen lässt sich dann aber ablesen, dass der Integrationsprozess in den 70er Jahren weit fortgeschritten war. Dabei sah sich die Bevölkerung Szczecins lange Zeit vor das Problem gestellt, dass sie fürchtete, ihre Stadt sei nur vorläufig polnisch. Musekamp spricht in Anlehnung an die Studie von Thum von einer „Psychose der Vorläufigkeit“, die aber mit dem Wiederaufbau verging und in den 70er Jahren nicht mehr festzustellen war.

Im zweiten Hauptkapitel befasst sich der Autor mit der kulturellen Aneignung der Stadt durch ihre neuen Bewohner. Direkt ab Mai 1945 wurden deutsche Inschriften zerstört, was einen Monat später durch Vorschriften institutionalisiert wurde. Anlässlich eines Besuchs von Präsident Bolesław Bierut wurden 1947 an der repräsentativen Hakenterasse Wappen deutscher Städte durch Wappen polnischer Städte ersetzt. Dagegen blieben die Wappen ehemals deutscher und jetzt polnischer Städte erhalten, da sie sich nicht geändert hatten, und nur ihre Beschriftung mit den Namen der Städte wurde verändert. In der gleichen Zeit demontierte man Denkmäler und veränderte konsequent die Straßennamen. Anders als in Wrocław wurden die alten deutschen Straßennamen jedoch nicht einfach ins Polnische übersetzt, sondern es wurden oft gänzlich andere Namen gefunden. 1955 erfolgte interessanterweise eine teilweise Revision dieser Politik, und einige Straßen erhielten ihre historischen Bezeichnungen, jetzt in polnischer Sprache, zurück.

Mit der Tilgung der deutschen Stadtgeschichte ging die Konstruktion einer eigenen Stadttradition einher. Da die nach dem Krieg durch Polen gewonnenen Westgebiete vom 10. bis 12. Jahrhundert zum Einflussgebiet des damaligen polnischen Staates gehört hatten, wurde von „wiedergewonnenen Gebieten“ oder der „Rückkehr in die piastischen Gebiete“ gesprochen. Diese Sicht wurde auch in Szczecin gepflegt und es kam zu einer regelrechten „Piasten­euphorie“, die so weit führte, dass sogar das aus dem 18. Jahrhundert stammende barocke Königstor unsinnigerweise eine Zeit lang als Piastentor bezeichnet wurde. Der „Piastenmythos“ verlor mit der Zeit jedoch an Bedeutung, weil er von wissenschaftlicher Seite entlarvt wurde. Von der offiziellen Politik wurde jedoch bis ans Ende der Volksrepublik an ihm festgehalten und er ist bis heute in Straßennamen präsent. Weitere Elemente der neuen Identität waren die Entwicklung eines Meereskults, der Szczecin zur Seestadt erklärte, und die Verklärung der Pionierjahre. Die ersten Neubewohner der Stadt nach dem Krieg galten als Pioniere, und sie betrachteten sich im Rückblick als „eine große Familie“, die sich für den Aufbau heldenhaft aufgeopfert und bei Null angefangen habe.

Im dritten Hauptkapitel geht es schließlich um die Zeit nach 1989. Musekamp beschreibt die von einer Kontroverse begleitete Entscheidung des Stadtrats aus dem Jahr 1993, das 750jährige Jubiläum des Magdeburger Stadtrechts zu feiern. Der erste polnische Stadtpräsident Piotr Zaremba meinte jedoch, das Gründungsjahr der Stadt sei 1945, und einige Bürger bezichtigten den Stadtrat, das Deutschtum Szczecins zu fördern. Als im Jahre 2005 die 60-jährige polnische Staatszugehörigkeit der Stadt gefeiert wurde, hatte sich das Bewusstsein gewandelt; jetzt betrachtete man das Jahr 1945 nicht mehr als Stunde Null und es wurde stärker die Gesamtgeschichte der Stadt in den Blick genommen. Bereits in den Jahren zuvor begann man, die Vorkriegsgeschichte der Stadt zunehmend als eigene Geschichte zu begreifen, was in Straßenbenennungen nach deutschen Stettinern zum Ausdruck kam. Herausragend war 2001 die Benennung eines neu geschaffenen Kreisverkehrs nach Hermann Haken, der zwischen 1878 und 1907 Bürgermeister Stettins war. Hieran zeigt sich ein deutlich gewandeltes Geschichtsbild, auch wenn die Entwicklung nicht ohne Kontroversen und Rückschläge verlief.

Musekamps interessante Studie analysiert, wie aus Stettin Szczecin gemacht wurde, und sie ist ein gutes Lehrbuch darüber, wie Geschichte konstruiert oder zu konstruieren versucht wird. Doch letztlich waren Denkmalstürze, Umbenennungen oder Mythen mit ihrer ganzen Radikalität in großem Maße eine Folge der nationalsozialistischen Epoche. Dieser Schlüssel zum Verständnis der kulturellen Aneignung gerät in der Studie in den Hintergrund; die kulturelle Aneignung wird hier mehr aus der Geschichte der Volksrepublik verstanden. Aber ist die Zerstörung von Wappen deutscher Städte an der Hakenterasse nicht viel mehr Äußerung eines (wenn auch aggressiv auftretenden) unermesslichen Leidens, als für eine kulturelle Aneignung?

Die vorliegende Arbeit ist gut lesbar, was an ihrer Anschaulichkeit liegt. Der Verfasser stellt nicht nur vereinzelt Bezüge zum kollektiven Erinnern der Stadtbevölkerung her, sondern auch mehrfach zum Stadtbild. Ein Stadtplan und eine Konkordanz der Straßennamen dienen der besseren Orientierung, und die Lektüre des Buches weckt geradezu den Wunsch, nach Szczecin zu reisen, und den Spuren des Beschriebenen nachzugehen. Musekamps Untersuchung ist somit eine ideale Reiselektüre für den historisch Interessierten, und es gibt wohl keinen besseren Ort, diese Arbeit zu lesen, als Szczecin selbst.

Hans-Christian Dahlmann, Hamburg

Zitierweise: Hans-Christian Dahlmann über: Jan Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 423 S., 22 Abb., 2 Ktn. = Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt, 27. ISBN: 978-3-447-06273-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Dahlmann_Musekamp_Zwischen_Stettin_und_Szczecin.html (Datum des Seitenbesuchs)

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