Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  454-455

Hans-Christian Diedrich „Wohin sollen wir gehen …“. Der Weg der Christen durch die sowjetische Religionsverfolgung. Eine russische Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts in ökumenischer Perspektive. Martin-Luther-Verlag Er­langen 2007. 572 S., Abb., Kte. ISBN: 978-3-87513-158-1.

Der Theologe und Russlandspezialist Hans-Christian Diedrich (1936–2008), lange Zeit Pfar­rer der Evangelischen Kirche der Union in der DDR (Kirchgemeinde Groß Glienike bei Berlin) und zuletzt Privatdozent an der Universität Greifswald, legte etwa ein halbes Jahr vor seinem krankheitsbedingten Tod eine umfangreiche Kirchengeschichte Russlands im 20. Jahr­hundert vor, in der nicht nur die Russische Orthodoxe Kirche (ROK), sondern auch die römisch-katholische, die lutherische und die neoprotestantischen Kirchen und Glaubensgemeinschaften in einer ökumenischen Zusammenschau behandelt werden. Während sieben Jahrzehnten jenes Jahrhunderts standen die Kirchen unter bolschewistischer Herrschaft und hatten unzählige administrative Maßnahmen gegen sich, Demütigungen, Bedrängungen und zeitweise blutige Verfolgungen zu erleiden. Ziel der bolschewistischen Partei nach dem Oktoberumsturz von 1917 war es, Religion und Kirchen zu vernichten. Um dieses Ziel zu erreichen, setzte sie alle verfügbaren Mittel ein, von grober atheistischer Propaganda bis zum Terror mit einer heute nicht mehr feststellbaren Zahl von Toten unter den Gläubigen. Diedrich nennt eine Schätzung von 300.000 Toten allein unter den Geistlichen aller Bekenntnisse (S. 415), die zum Teil unter entsetzlichen Umständen ihr Leben verloren. Beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war die ROK als Institution nahezu ausgelöscht, die Strukturen der katholischen und der lutherischen Kirche waren vollständig zerschlagen. Es grenzt an ein Wunder, dass trotzdem so viel religiöse Substanz erhalten blieb und unter günstigeren äußeren Umständen zu neuem Leben erwachte.

Der Verfasser unterscheidet in der Geschichte der russischen bzw. sowjetischen Religions- und Kirchenpolitik acht Zwölfjahresperioden, in die er seinen umfangreichen Stoff gliedert: 1905–1917: Von der Proklamation der Toleranz durch Zar Nikolaj II. bis zum Landeskonzil der ROK in der Revolutionszeit; 1917–1929: Kampf der Bol’ševiki gegen die Kirchen bis zum Kultgesetz von 1929, das die Handlungsspielräume der Kirchen bis zur Strangulierung einschränkte; 1929–1941: Versuch Stalins, die Kir­chen in der Sowjetunion vollständig zu vernichten – blutiger Terror; 1941–1953: Eine gewisse Liberalisierung der Religionspolitik im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit unter gleichzeitig sehr strenger staatlicher Aufsicht; 1953–1965: Entstalinisierung und erneuter Kampf gegen die Kirchen unter Chrusch­tschew; 1965–1977: Jahre der Stagnation unter Bresch­new, in denen der Kampf gegen die Kirchen in etwas milderer Form fortgesetzt wurde; 1977–1989: Von der Breschnew-Verfassung bis zur Perestrojka; 1989–2000: Religionsfreiheit und „Wiedergeburt“. Jedes Kapitel beginnt mit der Geschichte der ROK; es folgen Abschnitte über die katholische und die lutherische Kirche sowie über die neoprotestantischen Kirchen. Dass sich der Verfasser jahrzehntelang mit dem Protestantismus in Russland beschäftigt hat, ist deutlich zu spüren: Mit hoher Sachkenntnis bringt er zahlreiche kaum oder gar nicht bekannte Strömungen und viele Einzelheiten bei. Auf die Hauptteile der Darstellung folgen Ausführungen über die Altritualisten, kleinere Freikirchen und „Sekten“ sowie über die Gottlosenbewegung der Sowjetzeit. Eindrücklich sind die Listen der Märtyrer und verschollenen Geistlichen der katholischen und evangelischen Kirchen (542 Katholiken, 409 Evangelische; Märty­rerlisten der Orthodoxen wurden von der ROK publiziert und hier nicht wiederholt). Es folgen rund 50 Druckseiten mit wichtigen Quellen zur sowjetischen Religionspolitik und zu den Reaktionen der Kirchen auf die Repressionen des Staates in russischer Sprache und deutscher Übersetzung. Im Anhang berichtet Diedrich vom Arbeitskreis für russische Kirchengeschichte in der DDR, damals „Melanchthon-Arbeitskreis“ genannt, der sich 1963–1990 regelmäßig traf und – obwohl in seiner Haltung völlig unpolitisch – von der Stasi in dem operativen Vorgang „Giftspinne“ observiert wurde.

Diedrichs Darstellung ist äußerst kenntnisreich, im Urteil behutsam und differenziert. Die Gliederung der Kirchengeschichte in Zwölferperioden ist für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zutreffend, wirkt aber für die Zeit nach dem Tode Stalins gekünstelt. Hier müsste man die Politik der scharfen administrativen Einschränkungsmaßnahmen gegen die Kirchen unter Chruschtschew (1959–1964) und die Zeit von Glasnost’ und Perestrojka von 1987, dem Jahr der Ausdehnung der Perestrojka auf die Religionspolitik, bis 1991 als eigene Perioden zählen, während die Jahre 1977 und 2000 nicht als Einschnitte gelten können.

Die Auswirkungen der antireligiösen Politik der Sowjetunion auf die Kirchen werden in ihrer ganzen Tragik in diesem Buch zutreffend und mit der nötigen Differenzierung geschildert. Eigentümlich blass wirken teilweise allerdings die Ausführungen über die Dissidenten und Menschenrechtsbewegung mit ihren geistlichen und politischen Aufbrüchen der achtziger Jahre (Bewegungen für Religionsfreiheit und Menschenrechte, religiöser Samizdat, Helsinki-Prozess). So wird etwa die 5. Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Nairobi 1975 erwähnt (S. 284–285), die scharfe und grundsätzliche Kontroverse über die Lage der Kirchen in der Sowjetunion auf ihr aber übergangen. Auch die Bedeutung von Glasnost’ und Perestrojka für die Kirchen und die Religionsgesetze von 1990 und 1997 sowie die Artikel über die Religionsfreiheit und die Trennung von Kirche und Staat in der Verfassung der Russländischen Föderation von 1993 sind zu wenig profiliert oder gar nicht behandelt. Sehr gut gelungen ist jedoch die ökumenische Zusammenschau der verschiedenen Bekenntnisse. Die antireligiösen Repressionen gegen die nicht-orthodoxen Kirchen sieht Diedrich in größerer Parallele zu denen gegenüber der ROK, als es oft dargestellt wird. Der pastoral-erbauliche Titel des Buches (Zitat aus dem Evangelium nach Johannes, Joh. 6,68) darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei diesem Werk um eine fundierte, gründlich recherchierte und wissenschaftlich zuverlässige Arbeit handelt, in der auch die Untersuchungen der jüngsten Vergangenheit, die russischen wie die westlichen, ausgiebig berücksichtigt wurden.

Erich Bryner, Schaffhausen

Zitierweise: Erich Bryner über: Hans-Christian Diedrich: „Wohin sollen wir gehen …“. Der Weg der Christen durch die sowjetische Religionsverfolgung. Eine russische Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts in ökumenischer Perspektive. Martin-Luther-Verlag Erlangen 2007. ISBN: 978-3-87513-158-1, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 454-455: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bryner_Diedrich_Wohin_sollen_wir.html (Datum des Seitenbesuchs)