John-Paul Himka, Andriy Zayarnyuk (Hrsg.) Letters from Heaven. Popular Religion in Russia and Ukraine. University of Toronto Press To­ronto, Buffalo, London 2006. VIII, 277 S., s/w-Abb.

Der hier zu besprechende Sammelband ist eine echte Fundgrube – darin liegt aber sowohl seine Stärke als auch seine Schwäche. Volksreligiosität im Gebiet der ostslavischen (orthodoxen und griechisch-katholischen) Kirchen stößt als Forschungsgebiet seit einigen Jahren auf wachsendes Interesse, und dieser Band setzt eine Reihe bereits vorhandener einschlägiger Publikationen wie z.B. die von M. Steinberg / H. Coleman, V. Kivelson / R. Greene, A. S. Lavrov und E. B. Smiljanskaja fort. Aber so wie der Begriff „Volksreligiosität“ bzw. „Volksfrömmigkeit“ (das ist es, was in Titel und Einleitung mit „popular religion“ gemeint ist) nach wie vor so unscharf wie umstritten ist, hat sich auch der Einleitungstext der beiden Herausgeber mit dieser Problematik auseinanderzusetzen: Lässt sich wirklich eine „Volksreligiosität“ („popular religion“) einigermaßen erkennbar abgrenzen von einer „Elitenreligosität“ oder der „offiziellen Religiosität“ hochkirchlicher Definition und Billigung („official religion“)? Wie sich dann zeigt, und wie die Einleitung vorwegnimmt, kommen hierüber die Beiträge des Bandes, jeder auf der Basis seines Sujets, zu recht differenzierten, sowohl positiven als auch, anderswo, eindeutig ablehnenden Schlussfolgerungen. Das ist der Hinter­grund, vor dem die Herausgeber versuchen, dem Konzept der „popular religion“ zu einem auch methodisch weiterhin sinnvollen Gehalt zu verhelfen, und daraus einen roten Faden für die nachfolgenden Abhandlungen zu machen: „we can find ‘popular religion’ to be a term still worth using. Just as in the case with other cultural forms, the term […] does not necessarily imply that there is a unified whole (popular religion), juxtaposing itself against another such a whole (official religion)“ (S. 7–8)

Hier wird folglich eine Richtung eingeschlagen, die bewusst darauf verzichtet, ein Abgrenzungspotential von „Volksreligiosität“ gegen­über anderen Arten von Religiosität, von Eliten, exklusiven Kreisen oder einer offiziellen Kirche zu betonen. Die Übergänge werden fließend. Mit Blick auf die nachfolgenden Artikel scheint das eine berechtigte Herangehensweise; freilich trägt sie auch Züge eines Minimalkompromisses, der über sehr verschiedene Befunde hinweg das Konzept zu bewahren versucht.

Den Anfang bilden zwei Artikel, die sich mit Ritualen rund um Tod und Begräbnis in Russland und der Ukraine befassen. Christine D. Worobec’ Beitrag zu einschlägigen Bräuchen russischer und ukrainischer Bauern der Zarenzeit wird hier nach grundlegender Überarbeitung wiederveröffentlicht. Ihre Darstellung von Formen, mit denen in Bauerngemeinden orthodoxe Ri­ten in eine Art symbolisch-magische Überlebensstrategie integriert wurden, präsentiert eine zur offiziellen kirchlichen Sicht eher erweiternde als unbedingt gegensätzliche Sicht. Natalie Kononenkos soziologisch vorgehende Erhebung von Todes- und Begräbnisriten in der gegenwärtigen Ukraine beschreibt, auch wenn die einzelnen Riten und Bräuche von denen im vorangehenden Beitrag verschieden sind, einen im Prinzip ähnlichen Zugang und zeigt zugleich For­men, in denen orthodoxer Glaube über die Sowjetzeit hinweg fortbestand. Manches mutet recht fremd und archaisch an, und es erscheint lobenswert, dass die Autorin es vermeidet, die Bezeichnung „Aberglaube“ hier zu diskutieren, was in anderen Studien zum gleichen Thema doch offenbar eine Versuchung darstellt. (Vgl. bei­spielsweise W. Pawluczuk Ukraina. Polityka i mistyka. Krakau 1998.) Die vier nachfolgen­den Beiträge gelten dann allesamt Themen aus der Frühen Neuzeit: Mit großem theoretischem Aufwand macht sich Roman Holyk an die Deutung einer Wundererzählung aus Kal’no­fojs­kys „Theratourgema“ (Kiev 1638), ohne dabei freilich über die Frage nachzudenken, ob es sich bei einer Erzählung aus einer mit erzbischöflichem Segen veröffentlichten Sammlung ausschließlich um Volksreligion handelt. Vale­rie Kivelsons Artikel über „Sexuality and Gen­der in Early Modern Russian Orthodoxy“ stellt Begriffe wie Sünde und Tugend in ihren kulturellen Kontext. Ihr instruktiver Artikel arbeitet mit guter Argumentation dem oberflächlichen Eindruck entgegen, in der frühneuzeitlichen russischen Orthodoxie habe man es (analog zu Tendenzen im Westen) mit einer Verteufelung von Sexualität oder mit Frauenfeindlichkeit zu tun. Vielmehr zeigt sie anhand zahlreicher Beispiele, dass die Kirche eher an einer Wahrung des sozialen Friedens interessiert war, und sich die Strenge des Urteils über sexuelle Verfehlungen vor allem an deren Wirkung auf den ersteren bemaß. Eve Levin deckt die christlichen Wurzeln des Kults der Hl. Paraskeva auf und arbeitet Gründe für dessen Fortbestand im früh­mo­dernen Russland heraus. Paul Bush­ko­vitch untersucht die „Volksreligiosität“ in der Zeit Peters des Großen und nennt zahlreiche Beispiele da­für, dass sich in dieser Zeit keine wirk­liche Gren­ze ziehen ließ zwischen der Fröm­migkeit ei­ner irgendwie “aufgeklärten” Eli­te und den „Mas­sen“. Das Konzept einer „po­pu­lar religion“ steht somit aus seiner Sicht mindestens für diese Zeit in Frage, woran auch die staatlich-kirch­li­chen Regulierungsversuche wenig ändern konnten. Andriy Zayarnyuk beschäftigt sich mit dem für den Sammelband titelgebenden Sujet: Bei den „Briefen vom Himmel“ handelt es sich um ein im Volksglauben be­reits seit Jahrhunderten verbreitetes Genre von moralisierenden Schrif­ten, die der Legende nach von Gott oder Christus selbst verfasst und zur Erde herabgefallen seien. In größerer Zahl und verschiedenen (vom Autor verglichenen) Va­rianten kursierten sie auch in den ukrainischen Gebieten des späten 19. Jahrhunderts und boten für die ukrainische nationale Bewegung ambivalente Zeugnisse sowohl der originären Volkskultur wie des rück­ständigen Aberglaubens. Sophia Senyk kehrt mit ihrem (etwas irreführend überschriebenen) Artikel über Ikonendekorationen in der ostslavischen Orthodoxie (nicht allein in den ruthe­nischen Ländern) in die Zeit bis zum 18. Jahr­hundert zurück und kann – hierin in einer konzeptionellen Parallele zu Bushkovitchs Aufsatz – die Verbreitung solcher Votivdekorationen über das gesamte Zarenreich und durch verschiedene Schichten nachweisen. Auch hier hatten Versuche zur obrigkeitlichen Regelung wenig Wirkung. John-Paul Himka analysiert die „so­zialen Elemente“ in volkstümlichen Ikonendarstellungen des Jüngsten Gerichts, und will die Frage offen lassen, ob diese Darstellungen mehr auf traditionelle Ikonographie und Theologie zurückgehen oder mehr Bezug zur sozia­len Wirklichkeit ihrer Entstehungs­umgebung hat­ten. Vera Shevzov schließlich un­tersucht in einem dritten Artikel zu Ikonen Akafistos-Hym­nen auf wundertätige Ikonen und verweist auf die verbindende Rolle, die diese Hymnen zwischen lokaler Frömmigkeit und einem weiteren Kreis von Verehrern bestimmter Ikonen hatten. Diese Hymnen leisteten, so legt ihr Vergleich na­he, etwas ähnliches wie populäre Musik – wenn­gleich eher von einem bestimm­ten Kreis von Leuten komponiert, gingen doch Topoi allgemeiner Lebenserfahrung ein, und durch ihre Verbreitung wirkten die Hymnen bisweilen selbst in einem nationalen Sinne identitätsstiftend oder -befestigend.

Jeder der Autoren bewegt sich auf seinem Spezialgebiet und in einer Reihe mit vergleichbaren Publikationen an anderer Stelle. Herausgekommen ist insgesamt eine Sammlung von in ihrer Art jeweils sehr guten, teils sogar ausgezeichneten Beiträgen. Dennoch geht der eingangs projektierte rote Faden zuweilen verloren, und der anfangs gewonnene Eindruck von einem Minimalkonsens in Sachen Volksreligiosität bestätigt sich eher. Überhaupt nicht bedacht (außer vielleicht in den theoretischen Ausführungen von Holyk) wird eine chronologische Perspektive – sollte nicht „popular religion“ auch einer Entwicklung unterliegen, so dass Unterschiede zwischen der Frühen Neuzeit und dem späten 19. Jahrhundert wenigstens beiläufig eine Thematisierung verdient hätten? Auch ein Register mag manch ein Leser vermissen. Man kann freilich ebenso gut die Fragen, mit denen der Leser am Ende zurückbleibt, auch als Anregung zum Weiterdenken verstehen. Das Sujet des Buches wäre es wert, führen doch die einleitenden Überlegungen immerhin auf einen sinnvoll erscheinenden Weg, und danach ist diesem trotz allem guten Sammelband viel Stoff für ein Weiterdenken zu entnehmen.

Alfons Brüning, Nijmegen

Zitierweise: Alfons Brüning über: John-Paul Himka, Andriy Zayarnyuk (Hrsg.): Letters from Heaven. Popular Religion in Russia and Ukraine. University of Toronto Press Toronto, Buffalo, London 2006. ISBN: 0-8020-9148-2, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bruening_Himka_Zayarnyuk_Letters_from_Heaven.html (Datum des Seitenbesuchs)