Valdis O. Lumans Latvia in World War II. Fordham University Press New York 2006. XII, 547 S., 2 Ktn.

Eine umfassende Geschichte Lettlands in der Zeit des Zweiten Weltkriegs ist ein Desiderat. Das vorliegende Buch aber ist aus einem ganz speziellen Blickwinkel und mit einer ganz eigenen Absicht geschrieben worden: Als Kritik an den Mythen und Legenden, welche sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im lettischen Exil zu einem gemeinschaftsstiftenden Nar­rativ der eigenen Opferrolle summiert haben. Der Autor, in einem deutschen DP-Lager und in der US-Exilgemeinde groß geworden und als Historiker mit einer Studie über „Himmler’s Auxiliaries: The Volksdeutsche Mit­telstelle and the German national minorities of Europe 19331945“ auch in Deutschland bekannt geworden (1993), betreibt somit eine Art Vergangenheitsbewältigung in eigener Sache, wobei sich professionelle Darstellerkunst mit der immer wieder in Nebensätzen angesprochenen persönlichen Dimension der Geschichte seiner Eltern paart. Wenn man diesem Buch in diesem Zusammenhang einen Vorwurf machen kann, dann höchstens den, dass es für einen Großteil des hier angesprochenen Leserkreises zu spät kommt.

Doch mindert dies das Verdienst des Autors keinesfalls. Wer einen detaillierten Bericht über die speziell lettische Erfahrung in den Jahren 1939–1945 wünscht, wird hier recht gut bedient. In zwölf Kapiteln verfolgt Lumans Lettlands Geschichte, deren Beschreibung bei ihm zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzt. Allerdings gerät ihm hier sprachlich einiges reichlich undifferenziert: Für ihn sind es die „Russians“, die nach 1905 die Letten „brutally“ unterdrücken (und nicht etwa die Koalition der Deutschbalten mit der russländischen Regierung); es sind schlicht „Latvian nationalists“, die nicht nur 1918 die Republik gründen, sondern auch nach 1945 Geschichte schreiben. Für den Umstand, dass mit Kārlis Ulmanis ein und dieselbe Person sowohl die demokratische Republik als auch nach 1934 die autoritäre Diktatur begründet hat, findet Lumans hingegen keine Worte. Es folgt eine knappe Darstellung der Unabhängigkeitszeit, bevor ein drittes Kapitel die Krise des Jahres 1939 schildert. Zwei Kapitel setzen sich mit der sowjetischen Annexion und der Sowjetisierung im „Year of the Terror“ auseinander, bevor sich der III.-Reich-Historiker Lumans ausführlich in fünf Kapiteln der Zeit der deutschen Okkupation zuwendet. Eine derartig umfangreiche Schilderung der Jahre 1941–1944 hat man bisher vergeblich gesucht, zumal der Autor im Hinblick auf seine Zielsetzung auch die kontroversen Themen Holocaust, Kollaboration und Legion nicht ausspart, ihnen sogar eigene Kapitel widmet. Abgerundet wird diese Studie mit einem Kapitel „German Retreat and Soviet Return“, bevor in einem Epilog kurz die Nachkriegsgeschichte rekapituliert wird, bis sich nach 1991 Exil- und Heimat-Letten gegenüberstanden, einander fremder denn je.

Es ist hervorzuheben, dass Lumans durchaus einen Blick für die weitere Perspektive seines Themas hat. So beschränkt er seine Ausführungen nicht nur auf lettische Soldaten auf deutscher Seite, sondern gibt auch Auskunft über Letten in der Roten Armee. Er schildert nicht nur das Grauen des Holocaust auf lettischem Boden, sondern erwähnt auch die deutschen Kriegs­gefangenenlager für Rotarmisten. Lumans beschönigt nichts, weder das autoritäre Ul­manis-Regime nach 1934, noch das Verhalten mancher Letten gegenüber der jüdischen Be­völkerung im Sommer 1941. Bei der Zuweisung von Mitschuld am Holocaust an die Letten geht er sogar erheblich über Andrew Ezergailis hinaus, wenn er davon ausgeht, dass nicht nur einige Hundert, sondern eher einige Tausend Letten an der Ermordung der lettischen Juden beteiligt gewesen seien (S. 260). Eine weiterführende Erklärung hierfür bietet er jedoch nicht an. Den Vorkriegs-Antisemitismus erklärt er in Übereinstimmung mit Ezergailis für ein marginales Problem und betont in erster Linie die nicht erst von den Deutschen propagierte These von der jüdischen Schuld an der sowjetischen Okkupation.

Insgesamt bleibt die Studie deskriptiv und bietet dem Spezialisten wenig mehr als eine Zusammenfassung (meist älterer) Arbeiten. Auch wenn die ausführliche Bibliographie die wesentlichsten Publikationen auch neueren Datums umfasst, fehlen die aktuellsten Arbeiten in den Anmerkungen, so dass die Studie den Forschungsstand der späten neunziger Jahre spiegelt. Zudem bleibt die Argumentation nicht frei vom Repertoire der Exilliteratur, wenn z.B. die NKVD-Anordnung zur Durchführung der Massendeportationen aus dem Frühjahr 1941 ins Jahr 1939 zurückverlegt wird (S. 135). Es ist zudem zu bedauern, dass ein Autor wie Lumans, der nicht nur wissenschaftlichen Einblick in die NS-Geschichte genommen hat, sondern auch des Lettischen mächtig ist, keine Archivstudien betrieben hat. Auch mag man sich nicht unbedingt mit der starken Betonung des militärischen Aspekts der deutschen Okkupation anfreunden, obgleich die Beteiligung von Letten am Krieg ja das heroisierende Element des Exilnarrativs stellte. Ein ganzes Kapitel den „Latvians at the Front“ zu widmen, geht aber in erster Linie auf Kosten einer Aus­einandersetzung mit der lettischen Gesellschaft unter der deutschen Okkupation. Die „weichen“ Aspekte der Besatzungszeit, deren Behandlung diese Studie auch historiographisch wertvoll gemacht hätte – Alltag, Kultur, Erziehung, Familie etc. –, kommen bei Lumans zu kurz. Die immer wieder zur Illustration eingestreuten Erinnerungen von Einzelpersonen an die Zeit lassen eine methodische Aufarbeitung vermissen.

Somit hat Lumans mit „Latvia in World War II“ mit Sicherheit kein wissenschaftliches Standardwerk zur Geschichte der deutschen Besatzungszeit in Lettland vorgelegt, auch wenn gut die Hälfte des Umfangs den Jahren 1941–1944 gewidmet ist, denn seine Darstellung ist trotz der Detailfülle selektiv angelegt, weil sie primär der Auseinandersetzung mit den prägenden Mythen des Exils dient. Deren Widerlegung ist Lumans aber überzeugend gelungen, schon weil er sie immer wieder mit dem anderen Extrem, der sowjetischen Interpretation, konfrontiert. Der Blick über die Grenzen Lettlands hinaus zu den unmittelbaren Nachbarn Estland und Litauen hingegen wird trotz der vergleichbaren historiographischen Traditionen nur selten gewagt. Trotz dieser aus der Perspektive eines Historikers geäußerten Einschränkungen ist Lumans’ Arbeit einem an Lettlands Schicksal im 20. Jahrhundert interessierten breiten Leserkreis zur Lektüre durchaus zu empfehlen.

Karsten Brüggemann, Tallinn/Lüneburg

Zitierweise: Karsten Brüggemann über: Valdis O. Lumans: Latvia in World War II. Fordham University Press New York 2006. ISBN: 978-0-8232-2627-6, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Brueggemann_Lumans_Latvia_in_WWII.html (Datum des Seitenbesuchs)