Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  446-448

Alfred Gall, Thomas Grob, Andreas Lawaty [u.a.] (Hrsg.) Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. Harrassowitz Ver­lag Wiesbaden 2007. 419 S. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 8. ISBN: 978-3-447-05654-0.

Der Sammelband „Romantik und Geschichte“ präsentiert die Ergebnisse einer Konferenz, welche 2005 an der Universität Zürich stattgefunden hat. Er versammelt Beiträge von ausgewiesenen Polonisten und Komparatisten, deren gemeinsames Ziel war, die „Differenzen im Kanon“ – so der Titel der Konferenz – aufzuzeigen und die Kultur der polnischen Romantik im „Gegen- und Wechselblick von Geschichte und europäischer Romantik“ zu präsentieren.

Die Herausgeber des Bandes knüpfen an den Titel der 1978 erschienenen, für die polnische Romantikforschung richtungweisenden Arbeit von Maria Janion und Maria Żmigrodzka an („Ro­man­tyzm i historia“). Während es jedoch den Autorinnen vordergründig um die Nachwirkung der romantischen Ideen in der polnischen Geschichte ging, betrachten die Teilnehmer der Zü­richer Konferenz die polnische Romantik vor einem gesamteuropäischen Hintergrund. Die Analyse der Wechselbeziehungen zwischen der polnischen und der europäischen Romantik erweist sich als eine gute Möglichkeit, die bisher unbeachteten Aspekte der beiden Strömungen aufzudecken, die vergessenen Texte in den Mittelpunkt zu stellen und neue Forschungsmethoden an altem Material zu erproben. Das Ziel dieses Unternehmens ist, „eine gewisse Korrektur in der Ausrichtung der polonistischen Romantikforschung“ herbeizuführen. Der in Polen geführte „innere Dialog“ wurde nämlich „von den sich wandelnden literaturtheoretischen Positionen wenig berührt“. Die europäische Romantikforschung hat wiederum das polnische Paradigma bisher nicht genug berücksichtigt. Die Beiträge des Bandes stellen ein polyphones Gebilde von Themen und Methoden dar, welches einerseits als ein Panorama der modernen geisteswissenschaftlichen Methodologie, andererseits auch als ein Kompendium der aktuellen Fragestellungen in der Romantikforschung gelesen werden kann. Der Band besteht aus drei Teilen mit jeweils unterschiedlichen thematischen Schwer­punkten. Am Beispiel ausgewählter Beiträge werden sie im folgenden näher dargestellt.

Im ersten Teil des Bandes – „Modernisierung: ‚nation building‘ und ‚imagined community‘“ – steht der Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion der Nation im Mittelpunkt. Andreas Lawaty unternimmt auf der Grundlage der Lektüre von Mickiewiczs „Vorlesungen über slawische Literatur“ und Fichtes „Reden an die Deutsche Nation“ „eine […] vergleichende Analyse des Umgangs mit und der Deutung von der Fremdheits- und Fremdherrschaftserfahrung“ in Deutschland und Polen und deckt dabei eine überraschende „Affinität von Wahrnehmungsmustern und Lösungsstrategien“ auf. In einem weiteren Beitrag überprüft Hans-Jür­gen Bömelburg die Tragfähigkeit des Konzep­tes der „Übergangsgesellschaft“ für die polnische Kultur des ausgehenden 18. und des frühen 19. Jahrhunderts und weist auf die Anfänge des modernen polnischen Nationsbegriffs in den Werken vorromantischer Autoren wie Woronicz und Niemcewicz hin. Dirk Uffelmann greift zur Methodologie der „postcolonial studies“ und vergleicht die Lage des geteilten Polens mit den Erfahrungen der Kolonisation in den außereuropäischen Ländern. Vor diesem Hintergrund fasst er das romantische Projekt der Nationsbildung als einen performativen Akt (Austin, Butler) auf, der erst durch eine Vervollständigung in der Rezeption vollendet werden kann. Alfred Gall stellt unter Bezug auf die Methodik der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung (Assmann) und der postkolonialen Hybriditätstheorie (Bhabha) die literarische Gattung der „gawęda” als ein Medium der Gedächtnispolitik dar.

Der zweite Teil von „Romantik und Geschichte“ ist den Problemen von Individualität und Gemeinschaft gewidmet. Als zentrales Thema erscheint die Figur des romantischen Helden. Mit ihr beschäftigen sich u.a. Michał Mas­łow­ski und Stefan Chwin. Romantik hat laut Mas­łowski „eine neue moralische Norm“ geschaffen. Zu ihren Vermittlern sind die charismatischen Führer, insbesondere die Dichter-Pro­pheten (wieszcze) geworden. Masłowski erblickt in der Gestalt eines für das Schicksal der Gemeinschaft verantwortlichen Intellektuellen ein bis in die Gegenwart aktuelles Muster, das sich „dem bürgerlichen Individualismus juristischen Typs“ entgegenstellt. Stefan Chwin rekonstruiert den Prozess der Inbesitznahme des romantischen Helden durch die Gemeinschaft als eine „messianistische Kolonisation des Körpers“. Sie wird von dem Verbot eines „egoistischen“ Selbstmordes und dem Gebot eines Selbstmordes „zum Wohl der anderen“ ausgelöst und endet in einer völligen „Entkörperung“. Chwin zeichnet diesen Vorgang von seinen Anfängen bei Mickiewicz, über die Steigerung bei Sienkiewicz bis zu seiner grotesken Auflösung in den Texten von Witkacy nach. Eine andere Methode für die Untersuchung der individualistischen und universalistischen Züge in der polnischen Romantik wählt Brigitte Schultze. In ihrer Analyse der intertextuellen Bezüge bei Sło­wacki („Balladyna“) und Fredro („Pan Jo­wial­ski”) demonstriert sie die Textbezogenheit der polnischen romantischen Kultur und ihre Verbundenheit mit dem gesamteuropäischen Kul­turtext. Paradoxerweise ist sie nie als ein universalistischer Zug wahrgenommen worden. Die beiden Dramen wurden außerhalb Polens kaum rezipiert.

„Romantik und das Andere“ lautet der Titel des letzten Teiles des Sammelbandes. „Einmal aus der metaphysischen Ordnung entlassen, schafft sich der Mensch der Neuzeit im Horizont des Anderen“ – schreiben die Herausgeber. Der Romantik fällt dabei das Verdienst zu, dem Anderen eine eigene Stimme verliehen zu haben. Die Autoren dieses Teiles untersuchen in Anlehnung an postkoloniale und feministische Diskurse die Repräsentationen des Anderen in den Texten der Romantik. Izabela Su­rynt betrachtet Polen als Raum des Anderen in der deutschen Kultur der zwanziger und dreißiger Jahre. Das Andere, das unter dem starken Ein­fluss der ethnischen Stereotype konstruiert wurde, behält in dieser Zeit noch seine Ambivalenz und bleibt eine offene Figur, mit deren Hilfe auf die Probleme der eigenen Gesellschaft Bezug genommen wird. Eine ähnliche Perspektive benutzt Maria Zadencka, um über die Uk­ra­i­ne-Bilder der polnischen Romantiker zu schreiben. Hinter dem wiederkehrenden Landschaftsbild erblickt die Autorin ein einheitliches Grund­bild des Meeres, dank welchem eine interpretatorische Anknüpfung an den englischen kolonialen Diskurs und den Byronismus möglich wird, wobei signifikante Abweichungen von dem westeuropäischen Vorbild festgestellt werden. Als Gegenpart zu diesen „düster-pessimistischen“ Ukraine-Darstellungen erwähnt Za­denc­ka die „slawophile“ Richtung, welche das positive Bild einer primitiven Zivilisation zeichnet. Das Paradigma des Geschlechts in dem romantischen Alteritätsdiskurs wird u.a. von Ger­man Ritz behandelt. Ritz versucht die Situation der polnischen „weiblichen Romantik“ in einem literaturhistorischen Kontext zu erfassen, wobei er sie gleichzeitig in den Kategorien der „imaginierten Weiblichkeit“ und „der weiblichen Imagination“ betrachtet. Während er die von den romantischen Dichtern betriebene Idealisierung der Frau als einen Versuch der „Aneignung weib­licher Empfindsamkeit und Imagination“ deutet, weist er auf das Fehlen der sublimen Entwürfe bei den Autorinnen der Zeit hin. Diese haben sich hauptsächlich in den aus dem romantischen Kanon ausgeschlossenen prosaischen Gattungen geäußert, wodurch ihre Entwürfe größtenteils unbeachtet geblieben sind. Die Berücksichtigung der verdrängten Gattungen und Texte kann laut Ritz das Bild einer Epoche ändern.

Der Sammelband „Romantik und Geschichte“ ist ein gelungener Versuch eines solchen Per­spektivenwechsels.

Agnieszka Brockmann, Frankfurt/Oder

Zitierweise: Agnieszka Brockmann über: Alfred Gall, Thomas Grob, Andreas Lawaty [u.a.] (Hrsg.): Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2007. ISBN: 978-3-447-05654-0, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 446-448: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Brockmann_Gall_Romantik_und_Geschichte.html (Datum des Seitenbesuchs)