Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  435-436

Otto Teigeler Die Herrnhuter in Russland. Ziel, Umfang und Ertrag ihrer Aktivitäten. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2006. 726 S., Tab. = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 51. ISBN: 978-3-525-55837-9.

Der vorliegende umfangreiche Band beschäftigt sich mit einem wenig bekannten Thema, nämlich der Präsenz von Angehörigen der Herrnhuter Brüdergemeine in Russland. Im 18. Jahrhundert kam es zu den ersten Kontakten von Angehörigen der Brüderunität mit Russland, das nicht primär als Missionsgebiet betrachtet wurde, sondern vor allem als Durchreisestrecke in nördliche (Lappland, Eismeergebiet) und östliche (China) Gebiete. Nach den Einwanderungsmanifesten von Katharina II. sandte die Gemeine eine Gruppe von Männern in das Wolgagebiet, um eine Siedlung namens Sarepta zu gründen. Wie fast alle wichtigen Entscheidungen der Brüderunität wurden auch diese bis ins Detail durch das Los entschieden. Nach Schwierigkeiten mit den russischen staatlichen und kirchlichen Behörden wegen eines Versuchs, die Kalmücken zu bekehren, wurde 1892 die kirchliche Gemeine im Zusammenhang mit der Rücknahme der Siedlungsprivilegien der politischen Gemeinde eingegliedert; die Herrnhuter verließen die Siedlung, und die Kirchengemeinde des Ortes schloss sich kurz darauf der evangelisch-lutherischen Kirche in Russland an.

Der Verfasser teilt seine Arbeit in drei große Teile. Im ersten, der „Erste Schritte“ überschrieben ist und auf eine ausführliche Einleitung folgt, werden die Verbindungen von Herrnhut mit Russland von 1735 bis zu Katharina II. dargestellt. Hier steht der erste Kontakt, die Reise eines Mitglieds der Brüderunität nach St. Petersburg 1735, im Mittelpunkt. Durch ihn gelangte erste rudimentäre Kenntnis von den Kalmücken nach Herrnhut; der Verfasser zeigt allerdings, dass das traditionell vermutete Interesse an einer Kalmückenmission nicht zu halten ist. Spätere Reisen von Herrnhuter Brüdern nach Russland endeten mit der Verhaftung der Betreffenden als „schwedische Spione“.

Ein kürzerer zweiter Teil beschreibt den „Bedingungsrahmen im Aktionshorizont“. Hier werden die politischen und kirchlichen Gegebenheiten in Russland analysiert, aber auch die Situation der Brüdergemeine und die zunehmende Konkurrenz zu Hallenser Missionsversuchen, die in Russland wesentlich besser (und früher) verankert waren.

Der dritte Teil schließlich befasst sich mit dem „Projekt Sarepta“. Angefangen von der geänderten Einwanderungspolitik unter Katharina über den Entschluss der Unität, eine Siedlung zu gründen, über deren Anfänge, Strukturen, die Kontakte zu den Kalmücken bis hin zum Ende des Unternehmens und zu seiner Eingliederung in das russische staatliche und kirchliche System werden alle Entwicklungsphasen des Projekts ausführlich geschildert.

Die Studie zeigt sehr detailliert und gut nachvollziehbar, wie sich die Beziehungen der Unität zu Russland entwickelten und wie nach ersten Fehlschlägen dann mit Sarepta eine Stätte entstand, die von Herrnhuter Gedankengut geprägt war. Allerdings wurde der Gedanke rasch verworfen, die russische Orthodoxie (die die Herrnhuter, im Unterschied zu den orthodoxen Würdenträgern, sich selbst sehr nahestehend glaubten) zu reformieren und die in der Umgebung siedelnden „Heiden“ zu bekehren. Ein Missionsversuch an Kalmücken endete 1822 mit einem ausdrücklichen Missionsverbot, da die orthodoxe Kirche allein das Recht zur Heidenmission hatte. Die Details der Geschichte von Sarepta zeigen die häufig völlig falschen und naiven Vorstellungen der Herrnhuter über die Verhältnisse in Russland. Dass Entscheidungen von zentraler Bedeutung durch das Los entschieden wurden, machte die Situation insgesamt nicht einfacher.

Der zu besprechende Band ist eine ausführliche Studie über die oben kurz beschriebenen Ereignisse und Entwicklungen auf der Grundlage der Archivmaterialien, die in Herrnhut aufbewahrt werden. Die wichtigsten von ihnen werden in einem ausführlichen Anhang (S. 521–694) sorgfältig ediert. Jedoch wurden nur sehr wenige russische Quellen und Archive zu Rate gezogen. So ergibt sich ein Bild der Herrn­huter Russland-Aktivitäten aus der Binnenperspektive der Unität. Zwar konnte so die Geschichte der Brüderunität in Russland gut rekonstruiert werden, doch wäre es wünschenswert, wenn in einer komplementären Untersuchung die einschlägigen russischen Dokumente gesichtet würden. Das würde wohl kaum eine völlig neue Sicht der Dinge ergeben, aber vielleicht doch einige interessante Ergänzungen. Alles in allem liegt mit dem Band jedoch eine ausführliche und gediegene Studie vor.

Thomas Bremer, Münster

Zitierweise: Thomas Bremer über: Otto Teigeler Die Herrnhuter in Russland. Ziel, Umfang und Ertrag ihrer Aktivitäten. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2006. = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 51. ISBN: 978-3-525-55837-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 435-436: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bremer_Teigeler_Herrnhuter.html (Datum des Seitenbesuchs)