Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), 1, S. 141-142

Verfasst von: Bernd Bonwetsch

 

K 70-letiju načala Vtoroj mirovoj vojny. Issledovanija, doku­menty, kommentarii. Kollektivnaja monografija. [70 Jahre seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Forschungen, Dokumente, Kommentar. Eine kollektive Monographie.] Otv. red. A. N. Sacharov, V. S. Christoforov. Moskva: Izdat. IRI RAN, 2009. 487 S., 33 Abb. ISBN: 978-5-8125-1329-0.

Aus Anlass der 70. Wiederkehr des Beginns des Zweiten Weltkrieges hat das Institut für Geschichte Russlands der Akademie der Wissenschaften unter der Leitung seines Direktors A. N. Sacharov einen Sammelband zu Ereignissen aus der Vorgeschichte des deutsch-sowjetischen Krieges herausgegeben. Autoren sind neben A. N. Sacharov noch V. S. Christoforov, Ju. L. D’jakov, L. P. Kolodnikova, T. S. Bušueva und A. V. Seregin. Der Band ist mit Unterstützung der „Kommission zum Kampf gegen Versuche zur Fälschung der Geschichte zum Schaden Russlands beim Präsidenten der Russischen Föderation“ und mit einem Geleitwort von dessen Vorsitzendem, dem Leiter der Präsidialverwaltung S. E. Naryškin, erschienen. Das lässt aufhorchen, aber eine irgendwie geartete geschichtspolitische Stoßrichtung ist dem Band nicht zu entnehmen.

Die Beiträge des Bandes behandeln in einer gemischten Abfolge von Analyse, Chro­nik und historischer Reflexion das Münchener Abkommen, die Anbahnung und den Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes, die japanisch-sowjetischen militärischen Auseinandersetzungen in Fernost am Chalchin-Gol, die militärische Besetzung Westweißrusslands und der Westukraine im Herbst 1939, den sowjetisch-finnischen Krieg, und die sowjetische Politik gegenüber den baltischen Staaten. Die Quellengrundlage der Beiträge besteht vor allem aus Dokumenten der Auslands­spionage und der Spionageabwehr des NKVD aus dem Archiv des FSB, daneben aus Dokumenten des Staatlichen Militärarchivs RGVA.

Für manche der genannten Themen ergeben sich neue Aspekte. Der wesentliche Erkenntnisgewinn des Bandes betrifft jedoch die sowjetische Politik im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Finnland. Seit der Perestrojka ist zwar vieles bekannt, was zuvor geleugnet oder tabuisiert wurde. Besonders zu nennen ist hier der Band „Zimnjaja vojna 1939–1940. Političeskaja istorija“ (Moskau 1998). Aber aus den betreffenden Beiträgen des hier rezensierten Bandes gehen viele bislang wenig bekannte Einzelheiten zur Planung und – katastrophalen – Führung des Krieges einschließlich des grotesken Missverhältnisses der Opfer von sechs zu eins und der schändlichen Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen nach ihrer Auslieferung an die UdSSR hervor. A. Sacharov spricht deshalb nicht ohne Grund von einem „anderen Krieg“, der hier sichtbar wird. Das gilt insbesondere für das, was die „Sonderabteilungen“ (osobye otdely) über die mangelhafte Ausbildung, Ausrüstung, Versorgung und Führung sowie das Verhalten der sowjetischen Truppen meldeten. Das gilt ebenso für die Reaktion der Führung auf die Missstände und Misserfolge, nämlich Repression: Lev Mechlis räumte als Leiter der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee unter den Offizieren auf, und für die Soldaten wurden am 24. Januar 1940 aufgrund eines gemeinsamen Befehls von NKO und NKVD „Kontroll-Sperreinheiten“ zu je 100 Mann aus den operativen Regimentern des NKVD zur Unterbindung von Desertion gebildet und den „Sonderabteilungen“ unterstellt. Am 4. April 1940 wurden die insgesamt 27 aufgestellten Sperreinheiten wieder aufgelöst und im Übrigen im September 1941 nach demselben Muster wieder eingerichtet – nicht erst aufgrund des Stalin-Befehls Nr. 227 „Keinen Schritt zurück“ vom 28. Juli 1942, wie in vielen Darstellungen des deutsch-sowjetischen Krieges immer wieder behauptet, weil der Befehl es irreführend so nahelegt.

Interessant angesichts der Konjunktur ‚patriotischer‘ Literatur in Russland ist auch die Tatsache, dass der Sowjetunion am Beispiel des Krieges gegen Finnland keineswegs nur defensive Ziele wie etwa der Schutz Leningrads unterstellt werden. A. Sacharov ordnet diesen Krieg vielmehr in einem ausführlichen Essay in eine seiner Ansicht nach seit 1918 bestehende, expansive Tendenz der sowjetischen Außenpolitik ein, die sich aus geopolitischen Erwägungen und weltrevolutionären Überzeugungen gespeist und zumindest die Wiederherstellung der Grenzen des Russländischen Reiches zum Ziel gehabt habe. Dazu habe 1939 auch das Bemühen Stalins gehört, die Konfrontation Deutschlands und Englands zu provozieren. Konkret in Bezug auf Finnland wird der Sowjetunion der Wille zu einer militärischen Lösung und der vollen Eroberung und Angliederung Finnlands unterstellt. Schon in einem Befehl vom ersten Kriegstag sei festgelegt worden, wann Helsinki erobert und wann die schwedische Grenze erreicht werden solle (S. 274). Leider gibt es dazu keinen konkreten, sondern nur einen allgemeinen Hinweis auf „zur Verfügung stehende Dokumente“. Aber in dieses Bild passt, dass seit dem 11. November 1939 erste Einheiten einer „Finnischen Volksarmee“ gebildet wurden. Sie bestanden aus Finnen und Kareliern des Leningrader Militärbezirks unter 40 Jahren, kämpften im Verband der Roten Armee und wurden bis Februar 1940 auf eine Stärke von 25.000 Mann ausgebaut.

Es würde zu weit führen, sich mit allen Thesen der Autoren auseinanderzusetzen. Man muss nicht unbedingt mit ihnen einverstanden sein. Aber den Autoren ist zu konzedieren, dass sie in vielem ein frisches, realistisches und nicht zuletzt kritisches Bild der sowjetischen Politik zeichnen.

Bernd Bonwetsch, Ebeltoft

Zitierweise: Bernd Bonwetsch über: K 70-letiju načala Vtoroj mirovoj vojny. Issledovanija, dokumenty, kommentarii. Kollektivnaja monografija. Otv. red. A. N. Sacharov, V. S. Christoforov. Moskva: Izdat. IRI RAN, 2009. ISBN: 978-5-8125-1329-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bonwetsch_Sacharov_K_70_letiju_nacala.html (Datum des Seitenbesuchs)

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