Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 1, S.  120-121

Dmitrij Chmelnizki Die Architektur Stalins. Bd. I: Studien zu Ideologie und Stil. Mit einem Vorwort von Bruno Flierl. ibidem-Verlag Stuttgart 2007. 475 S. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 41/I. ISBN: 978-3-89821-515-2.

Dmitrij Chmelnizki Die Architektur Stalins. Bd. II: Bilddokumentation. ibidem-Verlag Stuttgart 2007. 208 S., 345 Abb. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 41/II. ISBN: 978-3-89821-515-2.

Nach der Veröffentlichung des zunächst lediglich in intellektuellen Zirkeln bekannten Buches „Kul’tura dva“ von Vladimir Papernyj (Ann Arbor 1985; Moskva 1996, 2. Aufl. 2006; englische Übersetzung: Cambridge 2002) ist in einer auf den ersten Blick ebenfalls unauffälligen Reihe wieder ein spannendes Buch über „Die Architektur Stalins“ erschienen. Mit dieser Studie promovierte der Architekturhistoriker Dmitrij Chmelnizki 2003 an der Technischen Universität Berlin. Aufgrund ihres äußeren Designs und ihrer inhaltlichen Komposition hinterlässt sie im Unterschied zu ihrer Vorgängerin zwar einen konventionellen Eindruck, doch unternimmt der Verfasser einen provozierenden Versuch, dem „Bauherren“ Stalin auf einer Meta­ebene nahe zu kommen. Da Chmelnizki ebenso wie Papernyj von der Interpretation zeitgenössischer Publizistik und der ikonographischen Deutung von Plänen und Bauwerken ausgeht, muss er wiederholt auf die Kategorien der von horizontaler Kommunikation und individueller Kreativität geprägten „Kultur 1“ (moderne Architektur) und der von vertikaler Abhängigkeit und kollektivem Zwang dominierten „Kultur 2“ (sozialistischer Realismus) zurückgreifen.

Die zentralen Fragestellungen des Buches lauten (S. 18): „War die künstlerische Umorientierung zu Beginn der 30er Jahre die Folge einer kunsttheoretischen Diskussion oder liegen ihr andere Faktoren zugrunde?“ Und: „Ist der sozialistische Realismus tatsächlich kein Stil, sondern eine Methode?“ Indem der Autor bei der Lektüre programmatischer Texte zwischen den Zeilen zu lesen gewillt ist und sich bei der Interpretation architektonischer Formen von seiner künstlerischen Auffassungsgabe inspirieren lässt, kommt er zu dem Schluss, die Entwicklung der stalinistischen Architektur sei das Resultat folgender Faktoren (Bd. I, S. 455): „a) der kulturellen und sozialen Diktate Stalins, b) der Lösungen der Aufgaben, die Stalin den sowjetischen Architekten vorschrieb, und c) gewisser Wandlungen der persönlichen und künstlerischen Vorstellungen Stalins.“ Weil sich Stalin in die Architekturdebatten nicht unmittelbar einschaltete, muss sein Wirken Chmelnizki zufolge indirekt erschlossen werden. In diesem Sinne behandelt der Verfasser die Diskussionen, die weniger öffentlich gewesen als vielmehr in jedem Stadium von oben gesteuert worden seien, in sechs mehr oder minder chronologisch geordneten Kapiteln, die sich an die Einleitung und einen Überblick über die „Architekturorganisationen und Verbände in der UdSSR vor 1929“ (Kap. 2) anschließen. Es handelt sich um Auseinandersetzungen mit dem „Beginn der Stalinisierung der sowjetischen Architektur 1929–1932“ (Kap. 3), mit dem „Palast der Sowjets: Zur Geschichte der Planung“ (Kap. 4), mit der „Zeit der Umerziehung 1932–1937“ (Kap. 5), mit der „Epoche der Stilstabilisierung 1937–1941“ (Kap. 6), mit der „Patriotischen Architektur 1941–1945“ (Kap. 7), mit der „Epoche der Reife 1945–1953“ (Kap. 8) und der „Endphase des Stalinstils 1953–1959“ (Kap. 9). Bei seinen Ausführungen geht es Chmelnizki im Unterschied zu anderen Architekturhistorikern (z.B. Harald Bodenschatz, Christiane Post [Hrsg.] Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929–1935. Berlin 2003) von Anfang an um den Zusammenhang von „Stilumorientierung“ und „Massenterror“ (Bd. I, S. 17). Dabei führt der Verfasser den Wandel vom Konstruktivismus zum Neoklassizismus und die Gleichschaltung der Architektenverbände sowohl auf eine „mentale Umerziehung“ zurück, die auf vorauseilendem Gehorsam und um sich greifender Prinzipienlosigkeit beruht habe (Bd. I, S. 47), als auch auf ein perfides System der „langen Leine“, das die Unsicherheit der Kontrahenten über die offiziellen Richtlinien und das Gegeneinander-Ausspielen aller Beteiligten durch die politische Führung vorausgesetzt habe (Bd. I, S. 156/157, 196).

Exemplifizieren lässt sich das Problem anhand von Chmelnizkis zweiter Leitfrage, der Frage nach dem „sozialistischen Realismus“ in der Architektur. Auch wenn er diesen Begriff keinesfalls für so sinnentleert und anekdotisch hält, wie es der in Architektenkreisen kolportierte Ausspruch des Akademiemitgliedes Ščusev – der einen Monatslohn für eine Definition geboten haben soll – nahelegt (Bd. I, S. 187), unterlässt es der Verfasser, sich um diesbezügliche Verdienste zu bemühen. Stattdessen beschränkt er sich auf die Benennung allgemeiner Charakteristika wie Monumentalität und Ensemble-Bauweise (Bd. I, S. 226). Die Entschlüsselung des Rätsels wird Chmelnizki zufolge aber – und das macht den innovativen Reiz seines Buche aus – erst durch die Verschiebung der Perspektive möglich (Bd. I, S. 266): „Die künstlerische Hauptmethode der stalinistischen Architektur war nicht der mystische ‚Sozialistische Realismus‛, sondern eine Methode der Versuche und Fehler. Begünstigt werden konnten die unterschiedlichen Stilvariationen mit Rückbesinnung auf Klassik, wichtig war nur, dass dahinter keine künstlerischen Prinzipien standen.“ Nicht der Neoklassizimus mache den „sozialistischen Realismus“ aus, sondern die Preisgabe jeglicher Kreativität bei der obligatorischen Reverenz an den imaginierten Geschmack des „großen Führers“.

Summa summarum handelt es sich um ein für das Verständnis der sowjetischen Architektur- und Stadtgeschichte nützliches Buch, dessen von einem separaten Bildband flankierter Hauptteil aufgrund seiner kritischen und gelungenen Interpretationen mit Gewinn zu lesen ist. In der Einleitung und im Literaturverzeichnis fällt auf, dass die westliche Fachliteratur nur ansatzweise erfasst ist. Das „Fazit“ (Kap. 10) besteht im Wesentlichen aus einer stichwortartigen „Chronologie der stalinistischen Architektur“ (Bd. I, S. 455–457) und ist mit einem einzigen inhaltlichen Absatz als Zusammenfassung ungewöhnlich kurz geraten (Bd. I, S. 455). Formal kann die kyrillische Schrift bei den bibliographischen Angaben in den Anmerkungen akzeptiert werden, doch erscheint die Vermischung von Dudenumschrift und angloamerikanischer Transliteration bei den Personennamen und im Literaturverzeichnis bedenklich, in ästhetischer Hinsicht handelt es sich um ähnliche Hybride wie die konstruktivistisch begonnenen und neoklassizistisch umgestalteten Gebäude in der Sowjetunion der Dreißigerjahre. Abgesehen davon kann festgehalten werden, dass es dem Eichstätter Politikwissenschaftler und Historiker Andreas Umland als findigem Herausgeber mittlerweile gelungen ist, aus einer anfangs unscheinbaren wissenschaftlichen Reihe ein quantitativ und qualitativ beachtliches Kompendium zeithistorischer Forschung zu formen.

Thomas M. Bohn, München

Zitierweise: Thomas M. Bohn über: Dmitrij Chmelnizki: Die Architektur Stalins. Bd. I: Studien zu Ideologie und Stil. Mit einem Vorwort von Bruno Flierl. ibidem-Verlag Stuttgart 2007. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 41/I; Bd. II: Bilddokumentation. ibidem-Verlag Stuttgart 2007. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 41/II. ISBN: 978-3-89821-515-2, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 120-121: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bohn_Chmelnizki_Die_Architektur_Stalins.html (Datum des Seitenbesuchs)