Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von:Dietrich Beyrau

 

Boris M. Firsov: Raznomyslie v SSSR 1940‒1960-e gody. Istorija, teorija i prak­tika [Plurales Denken in der UdSSR in den vierziger bis sechziger Jahren. Ge­schichte, Theorie und Praxis]. S.-Peterburg: Izdat. Evropejskogo Universiteta v S.-Peterburge; Evropejskij Dom, 2008. 543 S. ISBN: 978-5-8015-0224-3.

Vladislav Zubok: Zhivago’s Children. The Last Russian Intelligentsia. Cambridge, MA, London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2009. 453 S., Abb. ISBN: 978-0-674-03344-3.

Inna Kochetkova: The Myth of the Russian Intelligentsia. Old Intellectuals in the New Russia. London, New York: Routledge, 2010. XV, 205 S. = BASEES / Rout­ledge Series on Russian and East European Studies, 62. ISBN: 978-0-415-44113-1.

Alle drei Monographien kreisen mit sehr unterschiedlichen Fragestellungen und Perspektiven um das Thema der russischen Intelligenz in der Zeit nach 1945. Inna Kochetkova, Lecturer an der Universität von Bradford, behandelt den „Mythos“ der russischen Intelligenz. Gemeint ist das soziale Konstrukt einer Generation, deren Leistungen und Fehlleistungen ex post, d. h. nach dem Untergang der Sowjetunion, kontrovers verhandelt wurden   von den Betroffenen selbst wie von ihren Kritikern und der nachwachsenden Generation.

Die Darstellungen Vladislav Zuboks und Boris M. Firsovs lassen sich in unterschiedlichem Maße in weit verstandenem Sinne als die Geschichte des eigenen Milieus lesen. Vladislav Zubok hat seine wissenschaftliche Karriere am Institut für USA- und Kanada-Studien der Akademie der Wissenschaften in Moskau begonnen; seit den 1990er Jahren ist er in den USA mit Arbeiten zur Sowjetunion im Kalten Krieg bekannt geworden. Seit 2009 ist er Professor an der Temple University in Philadelphia. Firsov studierte Philosophie, war Parteifunktionär in den 1960er Jahren, dann arbeitete er als Soziologe und schließlich war er (bis 2003) Rektor der Europäischen Universität in Petersburg. In beide Darstellungen fließen eigene Erfahrungen ein bei Zubok eher indirekt, bei Firsov ganz explizit. Allen drei Autoren geht es um Geschichte und Geschichten der Intelligenz-Generationen nach 1945 bzw. nach Stalins Tod. Diese Generationen werden im Sinne von Karl Mannheim als Milieus und Gruppen mit gemeinsamen Erfahrungen und in gewissem Rahmen mit vergleichbaren Bewältigungsstrategien vorgestellt: Im Zentrum stehen die Intelligenz-Milieus Moskaus und Leningrads. Zubok konzentriert seine chronologisch angelegte Darstellung auf die für die hauptstädtische Intelligenz wichtigsten politischen und kulturellen Ereignisse, vom Tauwetter bis zum Ende der Sowjetunion. Mit ihrem Ende sei auch die russisch-sowjetische Intelligenzija untergegangen.

Wohl in Anlehnung an Aleksandr Solženicyns Aufsatz „Intelligenzler“ (in: Alex­an­der Solschenizyn u. a.: Stimmen aus dem Untergrund. Zur geistigen Situation in der UdSSR. Darmstadt 1975, S. 225‒272.) unterscheidet Zubok zwischen „Geistesarbeitern“ und (gebildeten) Kadern, von denen manche die Intelligenz protegiert hätten (Zubok, S. 205, 290, 325), auf der einen und Intelligenzija auf der anderen Seite. Letztere sei charakterisiert durch Textgläubigkeit, durch Anhänglichkeit an oder durch die Verbindlichkeit von Ideen. Die eigene Tätigkeit sei nicht nur als Broterwerb verstanden worden. Selbsterziehung, Selbstkultivierung und soziales Lernen im Sinne einer zunehmend kritischen Einstellungen zur sowjetischen Wirklichkeit und ihren Normen werden in allen drei Monographien als bedeutende Faktoren mit allerdings sehr unterschiedlich eingeschätzten Folgen für Kultur und Politik in der UdSSR vorgestellt.

Kadern und Geistesarbeitern hingegen unterstellt Zubok Konformismus und einen durch Furcht und Habitus erlernten Gehorsam gegenüber den Mächtigen (Zubok, S. 79 ff., 209 f., 303 f. 315 ff.). Damit unterstellt er den „Geistesarbeitern“ und Kadern wie ich meine zu Unrecht und viel zu pauschal ‒ Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Anti-Westlertum. Grenzfälle sind für ihn Intellektuelle mit konservativen oder nationalistischen Einstellungen wie Solženicyn, Lev N. Gumilev, der Maler Ilja Glazunov oder die Dorfschriftsteller (Zubok, S. 306 ff.). Ein besonderes Augenmerk richtet er auf die zumeist russisch akkulturierten oder assimilierten Angehörigen der Intelligenzija jüdischer Herkunft, die bekanntlich im kulturellen Sektor und auch unter den Kritikern, Oppositionellen und Dissidenten sehr präsent waren. Erst mit dem Scheitern der Petitionskampagnen von 196667 habe es in diesen Kreisen wie insbesondere unter vielen russischen Intellektuellen eine Hinwendung zu den „Wurzeln“, also der jüdischen oder russischen Identität gegeben (Zubok, S. 226 ff., Kap 7). Ohne dass dies immer explizit gemacht wird, baut Zuboks Darstellung sehr stark auf den Unterschieden zwischen russisch-jüdischen und ethnisch russischen Angehörigen der Intelligenzija auf ‒ dies mit der Tendenz, nur die russisch-jüdischen Repräsentanten seiner Erzählung mit dem Begriff der Intelligenzija zu adeln.

Neben der Chronologie der im wesentlichen bekannten Ereignisse in Kultur und Politik sowie biographischen Geschichten stellt sich Zubok die Frage nach der Geltung und Wirkung der Intelligenzija in der sowjetischen Gesellschaft: Am Beispiel der Reaktionen auf die Interventionen 1956 in Ungarn, in der Tschechoslowakei 1968, auf die öffentliche Schelte Andrej Sacharovs oder auf den Einmarsch in Afghanistan resümiert er: „Still, the submissiveness of the educated elite was depressing“ (Zubok, S. 293). Dies wird besonders im Vergleich zum Verhalten der gebildeten Schichten in Ostmitteleuropa hervorgehoben, wo Protest und Dissens viel stärker als in Russland in nationale Kulturen und Projekte eingebunden waren (Zubok, S. 357). Andererseits habe die Intelligenzija Verhaltenscodes entwickelt, die öffentlichen Konformismus mit mentaler Distanz kombinierten. Sie erlaubten, sich einerseits der vielen kleineren und größeren Privilegien zu erfreuen, die das Regime bot, sich aber andererseits nicht völlig seinen Zumutungen auszuliefern und sich allzu sehr zu kompromittieren (Zubok, S. 278 f., 303 f., 316 ff.). Was Yurchak (Alexei Yurchak: Everything was forever, until it was no more. The last Soviet Generation, Prince­ton / N.J., Oxford 2006.) als „Leistung“ und Beitrag insbesondere der Intelligenzija zur Zersetzung des sowjetischen Systems feiert und nachträglich legitimiert, sieht Zubok nüchterner als „deal“, als Ergebnis nicht immer besonders ehrenhafter Kompromisse, als „zynische Bruderschaft“ (Zubok, S. 322). Der Soziologe Boris V. Dubin spricht mit Blick auf das Regime Putins gar von der „Gesellschaft der Angepassten“, wenn es um die Intelligencija der 1960er bis 1980er Jahre geht (Boris Dubin: Gesellschaft der Angepassten. Die Breschnew-Ära und ihre Aktualität, in: Osteuropa 57, 2007, 12, S. 65‒78). Aber Techniken der „Maskierung“ (dissimulation) spielten immer noch eine Rolle. Nicht zufällig greift Zubok auf Czesław Miloszs Figur des „Ketman“ (Czeslaw Milosz: Verführtes Denken. Frankfurt/M. 1974; Dietrich Bey­rau: Ketman oder „Worte sind Masken“, in: Heidrun Hamersky / Heiko Plei­nes / Hans-Henning Schröder (Hg.): Eine andere Welt? Kultur und Politik in Osteuropa 1945 bis heute. Stuttgart 2007, S.71‒85.) als Muster zurück, also auf historische Beispiele des Verbergens eigener Überzeugungen und der Täuschung der Obrigkeit. Milosz hatte diese Figur allerdings in Analogie zu Verhaltensmustern in der Zeit des Spätstalinismus gesetzt; ob sie Verhaltensmuster in der milderen Zeit der Brež­nev-Ära angemessen kennzeichnet, bezweifle ich.

Zubok interessiert sich zudem für die Übertragung von Werten und Einstellungen der alten, vor der Revolution sozialisierten Angehörigen der Intelligenzija auf die nachwachsenden Generationen (Zubok, Kap. 1). Firsov hingegen entwirft eine Abfolge von Generationen (Firsov, S. 77 ff.) Hierbei interessieren ihn besonders die Generationen stalinistischer „Dressur“ (zakalka), die also in den zwanziger und dreißiger Jahren ihre entscheidenden Prägungen erfuhren, dann die Generation der Kriegsheimkehrer und die Generation, die im Russischen als die Generation der 1960er Jahre (šestidesjatniki) bezeichnet werden. Zubok nennt sie „Kinder Živagos“, Firsov bevorzugt den Bezug auf das politische „Tauwetter“. Er bezeichnet diese Generation auch als die erste „nicht geschlagene Generation“ (neporotoe pokolenie) (Firsov, S. 185, 225 f.).

Als gemeinsames Merkmal dieser Intelligenzija-Generation werden bei Firsov wie bei Kochetkova Lernprozesse und „Konversionen“ festgehalten, also die Entwicklung vom kindlich-jugendlichen „gläubigen“ Stalinisten zum Skeptiker oder gar zum Dissidenten. Im Allgemeinen habe die Mehrheit der Intelligenzija an Grundideen des Sozialismus als Leitidee festgehalten. In der Definition des Soziologen G. S. Batygin von 2005: Die Generation der 1960er Jahre als die „letzten überzeugten Kommunisten in einer Gesellschaft, die objektiv dieses Ideal überlebt hatte“ (zit. nach Firsov, S. 304). Daher, so Zuboks Resümee, sei die Intelligenzija nach den Umbrüchen von 1991 zum historischen Anachronismus geworden, nur noch geeignet als Objekt für historische und literarische Erinnerungen. Gleichwohl stehe sie für die Zentralität der kulturellen und idealistischen Dimensionen des sowjetischen Projektes (Zubok, S. 360 f.).

Im Grunde sind es diese von Zubok nicht näher definierten Dimensionen, die Firsov interessieren. In einem unübersichtlichen Potpourri von eigenen Erinnerungen, der Präsentation von Lebensgeschichten bekannter Soziologen, von angelesenem Wis­sen, von Reflexionen und Anekdoten gibt es ein zentrales Thema, das den Autor umtreibt: Die Entstehung und Breitenwirkung von „raznomyslie“, also von pluralem Denken in der Gesellschaft, das auch für Prozesse der Individualisierung von Denken und Einstellungen stehe. Er kontrastiert dieses Denken mit dem angeblich monolithischen, einheitlichen Denken der Stalinära. Er konstruiert hierbei zwei Stufen: Das „dvoemyslie“, das gespaltene Denken: Es bildete sich nach dem Erwachen aus kommunistischem Traum und Enthusiasmus angesichts einer widrigen Realität heraus und kombinierte äußeren Konformismus mit innerer Distanz. Es entspricht also ungefähr dem, was Miłosz in der Figur des „Ketman“ festgehalten hat. Dann habe sich das „plurale Denken“ entwickelt, das sich auch öffentlich ‒ wenn auch im Rahmen sich wandelnder amtlicher Vorgaben ‒ manifestierte. Auch dieses habe sich aus kognitiven Dissonanzen gespeist, wollte neue Akzente setzen, ohne sich unbedingt zu „maskieren“ oder die bestehende Ordnung grundsätzlich infrage zu stellen. Firsov ist sich aber unschlüssig, zu welcher Zeit und in welchen Milieus er die Anfänge pluralen Denkens festmachen soll. Er schildert sie einerseits am Beispiel der Generation der Kriegsheimkehrer, die sich angesichts enttäuschter Erwartungen, verordneten Schweigens und verlogener Erzählungen über den Krieg ihre eigenen Kommunikationsnetze und -orte schufen, um ihre authentischen Erfahrungen auszutauschen (Firsov, S. 85142. 164f). Andererseits sieht er in den Widersprüchen und Ungereimtheiten des „Tauwetters“ und in den Repressalien auch der Chruščev-Ära mentale Konflikte und kognitive Dissonanzen am Werk, die insbesondere die Angehörigen der Intelligenzija ‒ aber auch Funktionäre wie ihn selbst ‒ zu neuen Einsichten und Ausdrucksformen drängten. Er selbst präsentiert sich insbesondere in seiner Phase als Direktor des Leningrader Fernsehens (19621966) als jemanden, dem es um die klassischen Funktionen der Intelligenzija als Kulturträger, Volkserzieher und Träger des freien Wortes ging. Eine Sendung im Fernsehen über die Gefährdung der russischen Sprache durch den Newspeak wurde zum Stein des Anstoßes, der Firsovs Absetzung als Direktor zur Folge hatte. Dieser Vorgang ist im Anhang ausführlich dokumentiert (Firsov, S. 335 ff., 429 ff., 461 ff.). Meinungsvielfalt lernte er dann während seines Aufenthaltes beim BBC kennen, wo er die Techniken von Meinungsforschung erlernen sollte (Firsov, S. 442 ff). Die Entstehung und Breitenwirkung pluralen Denkens wird ebenso an den Kurzbiographien von bis heute bekannten Soziologen demonstriert. Ihre Lebensläufe enthalten insofern immer Bruchstellen, als sie mit den herrschenden Normen in den Wissenschaften nicht mehr einverstanden waren und oft in Auseinandersetzungen verwickelt wurden. Die Durchsetzung soziologischer Forschungen nach dem Tauwetter bot die Chance, Sozialwissenschaften weniger dogmatisch zu betreiben, bot auch neue Karrierewege und nicht zuletzt eine neue (oft kritische) Wahrnehmung der eigenen Gesellschaft. Die Soziologie trug auf diese Weise in der Sprache Firsovs zur Entstehung und Verbreitung von „raznomyslie“ bei (Firsov, S. 186 ff., 313 ff., 380 ff.).

Firsovs Argumentation über die Verbreitung pluralen Denkens in der Sowjetunion nimmt ein Thema auf, das sehr viel professioneller und systematischer sowohl von O. V. Charchordin (The Collective and the Individual in Russia. A Study of Practices, Berkeley 1999), einem der amtlichen Rezensenten dieses Buches (!), als auch von A. Yurchak behandelt worden ist. Es geht um die Prozesse von Pluralisierung in der sowjetischen Öffentlichkeit und wenigstens in bestimmten Schichten um das Ausleben individueller Verhaltensweisen, um die Wahrnehmung individueller Interessen und die Distanzierung von offiziellen kollektiven Zwängen und Denkmustern.

Stärker noch als Zuboks Darstellung sind Firsovs oft verworrene Ausführungen auch als Bilanz und Rechtfertigung einer Generation und von Milieus zu verstehen, die nach 1991 von verschiedenen Seiten als kompromittierte Versager, als Naivlinge, wenn nicht gar als „Verräter“ (vor allem wegen des Verhaltens unter Gorbačev und Jelzin) gescholten wurden.

Im „Mythos der russischen Intelligenz“ geht es Kochetkova nicht eigentlich um einen Mythos, sondern um diskursive Strategien im Umgang mit dem sozialen Konstrukt von Intelligenzija, das zentral ist für das nationale und soziale Selbstverständnis der gebildeten Schichten in Russland auch nach der Wende von 1991. Kochetkova wählt mehrere Perspektiven, um ihr Thema zu erschließen. Zunächst geht es (in Kapitel 3) darum, wie die Publizistik nach 1991 Leistungen und Defizite der Generation der 1960er Jahre gesehen hat. Hierfür wählte sie zum einen die „Nezavisimaja Ga­zeta“ (NG), zum anderen Zeitungen des rechten Spektrums („Den“ und „Zavtra“) aus. In der NG beteiligten sich Angehörige dieser Generation selbst ebenso wie der Nachwuchs an den kontroversen Debatten. Es ging um Rechtfertigungen, vor allem aber um das Versagen, die Kompromittierung und die Illusionen der „1960er“ über die Möglichkeit eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Der allgemeine Tenor lief auf den Topos von der „gescheiterten Intelligenzija“ (Kochetkova, S. 63) hinaus, mal bemitleidet, mal auch scharf attackiert. Im rechten Meinungsspektrum standen „patriotische“ Perspektiven im Vordergrund. Hier kursierte der Vorwurf vom „Verrat“. Merkwürdigerweise lässt die Verfasserin unerwähnt, dass der Verratstopos und andere Verschwörungstheorien doch wohl etwas mit der jüdischen Herkunft vieler Angehöriger der Intelligenzija der 1960er Generation zu tun hatten. Wenn Zubok dazu neigt, nichtjüdische Angehörige der Intelligenz, wenn sie konservativ, nationalistisch oder konformistisch waren, aus der Intelligenzija auszuschließen, und das jüdische Thema überbetont, so fällt bei Kochetkova das Schweigen zum jüdischen Thema auf, obwohl es in der rechten Presse doch eine große Rolle gespielt hat.

Interessanter als die Pressepolemiken sind zweifellos die folgenden Kapitel. Im 4. Kapitel geht es um die Selbstrepräsentation von Angehörigen der Intelligenzija der 1960er Generation nach den Umbrüchen von 1991. Erschlossen wird dies anhand einer im Jahre 2000 veranstalteten Konferenz, die dem Problem der Intelligenzija, ihrer vergangenen und aktuellen Rolle, gewidmet war. Im 5. Kapitel stellt sie auf der Basis von Interviews sehr unterschiedliche Lebensläufe von Angehörigen der Intelligenzija vor. Beide Kapitel ‒ über die Selbst-Repräsentation auf der Konferenz von 2000 wie in den Interviews ‒ bestätigen die in der Literatur schon häufig beschriebenen Normen, Ideale und Verhaltenscodes, welche die Zugehörigkeit zur Intelligenzija bestimmten. Besonders hebt die Verfasserin hervor, dass bei den meisten Angehörigen der Intelligenz die Deutung und Beschreibung des eigenen Lebens als Lernprozesse, als Konversionen und Diskontinuitäten beschrieben werden. Ebenso wichtig sind Geschichten, in denen das Verhalten gegenüber der Macht und den offiziellen Strukturen, aber auch die emotionale Bindung an informelle Milieus („Freundschaft“) eine wichtige Rolle spielten. Auch Firsov singt das hohe Lied der Freundschaft (Firsov, S. 224 f.). Das immer spannungsreiche Verhältnis zur Macht und zu den offiziellen Strukturen gilt unabhängig von den realen beruflichen und sozialmoralischen Optionen, die dann gewählt wurden. Die engeren und weiteren Sphären der Macht wurden als manchmal furchterregender, auf jeden Fall als intransparenter und als kafkaesker Dschungel erlebt, ihre Exekutoren dann aber eher als lächerliche Figuren (Kochetkova, S. 123 ff., 158 f.). Die Irritationen und Unsicherheiten wegen der Undurchschaubarkeit von Entscheidungen „von oben“ werden selbst bei Firsov erkennbar, der bis 1966 als Kader reüssierte (Firsov, S. 295 f., 399 ff., 437 ff.) Kochetkova fällt zudem auf, dass im Unterschied zu tschechischen Intellektuellen bei den russischen Interviewpartnern die Diskontinuitäten auch in der Formung der eigenen Persönlichkeit sehr stark betont werden, d. h. die Distanzierung von früheren Einstellungen und Verhaltensweisen (Kochetkova, S. 117).

Alle drei Arbeiten bemühen sich um eine Binnensicht der von ihnen behandelten Intelligenzija. Die soziale Funktion der meisten Gebildeten als wesentliche Träger und Funktionäre des Systems wird weder bei Zubok, kaum bei Firsov und nur wenig ‒ in Gestalt von Polemiken ‒  bei Kochetkova behandelt. Unausgesprochen bleibt „Intelligenzija“ eine moralisch aufgeladene Kategorie, die von kognitiver Dissonanz her gedacht (und gelebt) wird, kaum aber von ihrer sozialen Funktion. Bei Zubok und Firsov wird mehr nahegelegt als bewiesen, dass die Intelligenzija irgendwie das sowjetische System unterminiert habe, ihre stützende Funktion als Träger und Funktionäre des Systems wird nicht problematisiert. Da Intelligenzija von vornherein positiv konnotiert ist, fallen problematische und kompromittierende Verhaltensweisen und Aktivitäten in der Regel aus dem Blick, so dass insbesondere Zuboks und Firsovs Ausführungen nolens volens einen stark apologetischen Zug enthalten die Geschichte der Intelligenzija als Leidens- und Heldengeschichte.

Dietrich Beyrau, Tübingen

Zitierweise: Dietrich Beyrau über: Boris M. Firsov Raznomyslie v SSSR 1940-1960-e gody. Istorija, teorija i praktika [Dissidenz in der UdSSR in den vierziger bis sechziger Jahren. Geschichte, Theorie und Praxis]. S.-Peterburg: Izdat. Evropejskogo Universiteta v S.-Peterburge; Evropejskij Dom, 2008. ISBN: 978-5-8015-0224-3; Vladislav Zubok Zhivago’s Children. The Last Russian Intelligentsia. Cambridge, MA, London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2009. ISBN: 978-0-674-03344-3; Inna Kochetkova The Myth of the Russian Intelligentsia. Old Intellectuals in the New Russia. London, New York: Routledge, 2010. XV. = BASEES/Routledge Series on Russian and East European Studies, 62. ISBN: 978-0-415-44113-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Beyrau_SR_Firsov_Zubok_Kochetkova.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Dietrich Beyrau. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de