Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  581–582

Dnevnik General-fel’dmaršala Grafa Dmitrija Alekseeviča Miljutina 1873–1875 [Tagebuch des Generalfeldmarschalls Graf Dmitrij Alekse­e­vič Miljutin 1873–1875]. Pod red. L. G. Za­cha­rovoj. 2-e, dop. i ispr. izdanie. Izdat. Rosspėn Moskva 2008. 436 S., Abb. ISBN: 978-5-8243-1081-8.

Die Moskauer Historikerin Larisa A. Zacharova hat nach der Publikation der Altersmemoiren D. A. Miljutins (siehe meine Rezension in JBfGOE 55 [2007] S. 600–602), des Kriegsministers unter Alexander II., eine neue Edition seiner Tagebücher in Angriff genommen. Sie waren seinerzeit von ihrem Lehrer P. A. Za­jonč­kovskij publiziert worden und sind jetzt kaum noch greifbar (Petr A. Zajončkovskij [Hrsg.] Dnevnik D. A. Miljutina. T. 1–4. Mos­k­va 1947–1950). Die neue Edition ist ergänzt wor­den um einen sehr ausführlichen Anmerkungsapparat. Als gute Kennerin der zeitgenössischen Literatur und der Archive zitiert sie hier kommentierend oder parallel zu Aussagen Mijutins auch solche seiner Zeitgenossen (P. A. Va­luevs, des Großfürsten Konstantin Nikolaevič, E. M. Feoktistovs, D. A. Obolenskijs u.a.). Aussagen Miljutins werden zudem durch Protokolle, Briefe u. ä. ergänzt.

Des Weiteren hat die Herausgeberin dem Tagebuch einen Aufsatz Miljutins über seine Reformen aus dem Jahre 1882 im „Vestnik Evropy“ und eine Biographie des Ministers aus der Feder Zajončkovskijs hinzugefügt. Diese war seinerzeit als Einleitung zu den Tagebüchern erschienen.

Der Kriegsminister begann seine Eintragungen im April 1973 auf dem bereits ausklingenden Höhepunkt seiner Auseinandersetzungen mit konservativen Militärs und mit P. A. Šuvalov, dem Chef des Gendarmenkorps und der III. Abteilung, sowie mit D. A. Tolstoj, Oberpro­kuror des Heiligen Synods und Minister für Volksaufklärung. Den Ursprung und Verlauf dieser Konflikte hat er ausführlich in seinen Altersmemoiren dargestellt. Hier nun geht es 1873 und 1874 um die unmittelbare Wiedergabe dieser Auseinandersetzungen. Gegenstand der Kon­flikte waren die Strukturen, die Miljutin und sein Stab seit den sechziger Jahren im Militärressort geschaffen hatten und weiterentwickeln wollten. Konkret ging es um die Wehrkreisreform, die Feldverwaltung, Truppenökonomie und Intendantur und die Einrichtung von Korps. In den Tagebüchern stehen zwei „Schlacht­felder“ im Mittelpunkt: Der Kampf um die ressortmäßige Zuordnung der Mediko-Chirurgischen Akademie, bisher unter Aufsicht des Kriegsministeriums, war das erste. D. A. Tol­stoj wollte sie unbedingt seinem Ressort zuschlagen. Den Hintergrund dieser Bestrebungen bildeten die Auseinandersetzungen um klassische Bildung, de­ren Verfechter Tolstoj war, und um reale Bildung, die nach Miljutin für Berufe wie den der Ärzte ausreichte. Ein zweites „Schlachtfeld“ war die 1870 im Grundsatz be­schlossene Einführung der allgemeinen Wehr­pflicht in Russland. Die konservative Fronde, die „Šuvalov-Bande“ (šuvalovskaja šaj­ka) (S. 75), aber auch Alexander II., befürchteten eine „Demokratisierung“ der Armee (S. 59), weil Miljutin den Bildungszensus zum Kriterium für die Dauer des Wehrdienstes, aber auch zum Kriterium für den Zugang zum Offiziersstand machen wollte. Šuvalov hätte das Offizierskorps wohl am liebsten dem Adel vorbehalten. Dies war angesichts der geltenden Regeln der Rangtabelle und der notwendigen Vermehrung von Offiziersstellen im aktiven Dienst wie vor allem in der Reserve eine völlig unrealistische Position. Grundsätzlich setzte sich Miljutin durch. Spätestens seit der Ernennung Šuva­lovs zum Botschafter in London (Juni 1874) konnte sich der Kriegsminister des kaiserlichen Wohlwollens wieder sicher sein.

Im Übrigen liefert das Tagebuch gute Einblicke in den Alltag und die Routine eines Ministers mit den ständigen Vorträgen beim Kaiser, den vielen Beratungen in den verschiedensten Gremien, den Besuchen der Truppen und militärischer Bildungsanstalten in St. Petersburg. Manchmal nahm der Kriegsminister dort auch an Prüfungen teil. Mindestens ebenso zeitaufwendig war die Präsenz bei den unentwegt stattfindenden Feierlichkeiten und Paraden. Die Rei­sen auf die Krim wurden zu gelegentlichen Besuchen von Truppen oder militärischen Ausbildungsstätten genutzt. Die Berichte aus dem Privatleben sind einsilbig. Man erfährt nur wenig über die Krankheit einer der Töchter, von der nomadischen Existenz der Familie mit Sommeraufenthalten in Simeiz auf der Krim, dem späteren Alterswohnsitz Miljutins, und den vielen Auslandsaufenthalten. Der Bau eines komfortableren Hauses war selbst für einen Minister eine anstrengende, sich über Jahre hinziehende Angelegenheit.

Wer einen ersten Eindruck von den vielen Problemen gewinnen will, mit denen es die Regierung und ein Minister in diesen Jahren zu tun hatten, kommt auf seine Kosten. Aber die hier behandelten Jahre sind, um einen Ausdruck aus der Militärsprache zu benutzen, ohne besondere Vorkommnisse und daher streckenweise auch langweilig.

Gleichwohl sind die Tagebücher eine unentbehrliche Quelle für die russische Politik dieser Jahre mit unendlich vielen Informationen über alle möglichen Ereignisse, Aktivitäten und Probleme im Blickfeld des Ministers. Hier einige Beispiele: Einer der jungen Großfürsten beging Diebstähle und wurde deshalb therapiert (S. 118ff., 190); das Gouvernement Samara litt 1873 unter Missernten und einer Hungersnot (S. 56); im polnischen Gouvernement Siedlec kam es wegen der zwangsweisen Überführung der „Uniaten“ in den Schoß der Orthodoxen Kirche zu Unruhen (S. 85–86, 108–109, 155–156, 271–272); Miljutin klagt über den Einsatz der Lobbys beim Bahnbau (S. 32–33, 147, 160ff., 213) und über den schleppenden Kasernenbau (S. 120–121, 185). In Absprache mit Frankreich bemühte sich Russland um Regeln für die zukünftige Kriegsführung und den Umgang mit Kriegsgefangenen (S. 115–116). Die endgültige Besetzung von Kokand unterstützte Mi­ljutin (S. 193–199), bei der „Krieg-in-Sicht“-Krise war er nur Zuschauer. Es wurde aber spekuliert, dass Preußen-Deutschland bei einem erneuten Krieg gegen Frankreich dieses über Belgien angreifen könnte (S. 169ff.).

Dietrich Beyrau, Tübingen

Zitierweise: Dietrich Beyrau über: Dnevnik General-fel’dmaršala Grafa Dmitrija Alekseeviča Miljutina 1873–1875 [Tagebuch des Generalfeldmarschalls Graf Dmitrij Alekseevič Miljutin 1873–1875]. Pod red. L. G. Zacharovoj. 2-e, dop. i ispr. izdanie. Izdat. Rosspėn Moskva 2008. ISBN: 978-5-8243-1081-8, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 581–582: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Beyrau_Dnevnik_Miljutina_1873_1875.html (Datum des Seitenbesuchs)