Andrzej Nowak History and Geopolitics: A Contest for Eastern Europe. Polish Institute of International Affairs Warsaw 2008. 363 S. ISBN: 978-83-89607-28-7.

Die Beziehungen mit den östlichen Nachbarn der Europäischen Union gehören vielleicht zu den wichtigsten Problemen, mit denen Brüssel in den kommenden Jahren konfrontiert sein wird: Zum einen aus der geopolitischen Notwendigkeit, die Grenzen „Europas“ im Osten früher oder später definieren zu müssen; zum anderen aufgrund der geo-ökonomischen Tatsache, dass Europa von Russlands Gas- und Rohölexporten abhängig ist. Noch wird um die Einflusssphären gerungen, noch ist nichts entschieden. Vor diesem Hintergrund hilft die historische Einordnung Osteuropas bei einem besseren Verständnis der Denkweisen der wichtigsten Akteure.

Das Buch von Andrzej Nowak, Professor für Geschichte an der Jagiellonen-Universität Krakau, ist eine Sammlung von 13 Essays, die chronologisch von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart reichen. Neun von ihnen wurden bereits in anderen Sammelbänden bzw. Zeitschriften publiziert. Thematisch kreisen sie alle um das Verhältnis zwischen Russland und Polen, um die Frage nach geopolitischer Ausrichtung und imperialer Expansion, um die Außenpolitik und die gegenseitige Wahrnehmung in Geschichte und Gegenwart. Der Autor versucht, die geopolitische Dimension der Geschichte Osteuropas in einen aktuellen Kontext zu bringen.

In diesem Zusammenhang erscheint das Verhältnis zwischen Russland und Europa von fundamentaler Bedeutung. Nowak spannt einen breiten Bogen, der ideengeschichtlich geprägt ist: von der Übernahme des orthodoxen Christentums 988 über die Moskauer bzw. Petersburger Periode bis hin zur Sowjetunion und dem heutigen Russland. Der Schwerpunkt liegt jedoch eindeutig auf der Zeitspanne zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert. Unter Peter dem Großen wurde Westeuropa zum Bezugspunkt für die Modernisierungsbemühungen der Zaren. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann das russische „Dilemma“ Nowak zufolge auf die Frage zugespitzt werden: Soll das Imperium der verlängerte „Arm“ der westlichen Zivilisation in Asien sein, oder soll es in Abgrenzung zum Westen nach einer anderen Identität suchen? Dabei habe der Krimkrieg der russischen Elite alle Defizite im Vergleich mit Westeuropa deutlich vor Augen geführt. Zugleich ver­weist der Autor auf Intellektuelle wie Nikolai Danilevskij, die Ideen entwickelten, die den Modellcharakter des Westens in Frage stellten und Russland als eine Zivilisation für sich auffassten, obgleich sie damit gerade die westlichen Kategorien übernahmen. Die asiatische Ori­en­tierung Russlands als eines Erbnachfolgers des Tschingisiden-Reichs spiegelte sich in den letzten Jahren in den Thesen der sog. Eurasier, zu deren prominentesten Vertretern Lev Gumilev gehörte.

Aus polnischer Sicht ist es nicht ohne Interesse, ob Russland sich heute als Imperium definiert oder als „Staat“ begreift. Historisch gesehen gehörte die polnisch-litauische „Adelsrepublik“ zu den wichtigsten Kontrahenten Russlands in der Rivalität um Osteuropa. Berechtigt ist daher die Frage, ob Polen-Litauen im 16.–17. Jahrhundert ein Imperium war. Nowak folgt den polnischen Historikern und Publizisten, die in der Passivität des polnischen Königs Kasimir eine verpasste Chance sahen, das Moskauer Reich an der Unterwerfung des Novgoroder Gebietes zwischen 1471 und 1478 zu hindern und dieses stattdessen in das Jagiellonenreich zu integrieren. Dass den Höhepunkt imperialer Versuchung die Bemühungen Sigismunds III. darstellten, die russische und die schwedische Krone mit der polnischen in einer Hand zu vereinen und somit ein Reich zu schaffen, das sowohl Polen-Litauen als auch Skandinavien und Russland mit Westsibirien umfassen sollte, geht jedoch aus Nowaks Ausführungen nicht deutlich genug hervor. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verschob sich das Kräfteverhältnis zwischen Moskau und Warschau zugunsten des Zarenreiches und gipfelte schließlich in den Teilungen Polens. Die Idee, den umstrittenen Raum zwischen Polen und Russland (Litauen, Teile der Ukraine und Weißrusslands) in einen Staatsverband nach jagiellonischem Konzept zu integrieren, wurde Nowak zufolge nach dem Ersten Weltkrieg reaktiviert und von Józef Piłsudski verkörpert.

Das Erbe der „Adelsrepublik“ sieht Nowak auch nach 1989 lebendig. So hätten namhafte Historiker wie Jerzy Kłoczowski oder Andrzej Kieniewicz vorgeschlagen, Polen nicht aus­schließlich als ein östliches EU-Grenzland auf­zufassen, sondern als einen Integrator, der die Ukraine und langfristig auch Weißrussland nach „Europa“ öffnet. Dies korrespondiere gut mit der Tatsache, dass weite Teile der politischen Klasse in Polen die „Orange Revolution“ in der Ukraine unterstützt hätten und sich für die Osterweiterung der NATO und der EU stark machten. Diese von Nowak vertretene Position folgt somit Brzezinskis Forderung, dass Warschau im Osten Europas die Rolle eines US-amerikanischen, Russlands Machtansprüche eindämmenden Puffers einnehmen solle. Ob dieses Konzept allerdings auch in Berlin oder Paris strategisches Allgemeingut wird, erscheint zunächst unwahrscheinlich.

Dariusz Adamczyk, Hannover

Zitierweise: Dariusz Adamczyk über: Andrzej Nowak: History and Geopolitics: A Contest for Eastern Europe. Polish Institute of International Affairs Warsaw 2008. ISBN: 978-83-89607-28-7, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 314: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Adamczyk_Nowak_History_and_Geopolitics.html (Datum des Seitenbesuchs)